Träume werden manchmal wahr

Unser Gastschreiber Michael Johnson stammt aus England, lebt seit Jahrzehnten in der Schweiz und ist vor einem Jahr in der Altstadt angekommen – wo er sich sehr wohl fühlt.
Es ist schon bald 30 Jahre her: ein lauer Sommerabend, Mitte Woche, Mitte der 1990er-Jahre, in einem anderen, immer noch relativ unbeschwerten Zeitalter. Ich war mit einem Kunden in irgendeinem Restaurant im Dörfli essen. Während unseres Gesprächs erzählte er mir von seiner Kindheit, und wie er da in der Altstadt mit seiner alleinerziehenden Mutter aufgewachsen sei.
Von seiner Geschichte war ich fasziniert. Es hatte sicher bereits elf geschlagen, wir hatten genug getrunken. Plötzlich sagte er zu mir: «Komm, ich zeige dir, was ich als Bub im Dorf alles entdeckte und wo ich mich austobte.»
Und es ging los. Ich habe natürlich jetzt keine Ahnung mehr, wo er mich hingeführt hat. Wir rannten durch die schlafenden Gassen – ein kräftiger Sommerregen hatte inzwischen eingesetzt, was ganz spezielle Gerüche zum Leben erweckte. Für mich war alles Neuland. Wir krochen durch Hecken, kletterten über Mauern, und standen plötzlich, regenüberströmt, in wild verwachsenen Gärten mit Spielplätzen und Schaukeln, ringsum wunderschöne alte Fachwerk-Häuser. Versteckte Oasen, im Herzen von Zürich, die du dir als Aussenseiter nie im wildesten Traum hättest vorstellen können.
An dem Abend habe ich die unwiderstehliche Magie vom Dörfli für mich entdeckt. Und bin ihr verfallen.
Wohnungssuche: (k)ein Albtraum
Vorspulen ins Jahr 2024. Ich, gebürtiger Engländer, inzwischen eingebürgerter Schweizer, wohne seit 42 Jahren in meiner Wahlheimat, davon mehr als 37 Jahre im Kanton Zürich. Und darunter bald ein Jahr in der Altstadt.
Letzteres war nicht Absicht, eher Glück und – im wahrsten Sinne des Wortes – (Um-)Zugzwang. Mitte 2023 verkaufte ich nach 15 Jahren meine Wohnung in Zollikon, einer Gemeinde, wo ich insgesamt 25 Jahre meines Lebens verbrachte. Ich besitze das Bürgerrecht sowohl von der Gemeinde als auch von der Stadt Luzern, dem Heimatort meiner Ex-Frau. Nach dem Ende einer Beziehung war mir die Wohnung zu gross geworden. Ich wollte alters- und umstandsbedingt auch «downsizen», Ballast loswerden und einfacher leben. Ich musste eine halbe Tonne Bücher wegschmeissen. Es tönt brutal, aber wer will eine 30 Jahre alte, 33-bändige Encyclopaedia Britannica, die 70 Kilo wiegt? Kurze Antwort: niemand. Nach dem Wohnungsverkauf hatte ich nichts in Sicht – ich hatte 2023 mehrere Monate in Spanien verbracht – und war obdachlos. Es wurde langsam ernst.
Als ich mich dann direkt nach dem Anfang des neuen Jahres auf die Suche nach einem passenden Zuhause begab, habe ich innerhalb von – sage und schreibe – fünf Tagen eine Wohnung an der Oberdorfstrasse gefunden, deren Mieter ausserterminlich «zügle» musste. Ich hatte mich ohne grosse Hoffnungen – ich bin ein optimistischer aber keinesfalls weltfremder Mensch – beworben. Vier Tage später kam der Anruf vom Vermieter: ob ich die Wohnung möchte? Drei Wochen später zog ich in mein neues Daheim ein.
Also, eine Wohnung in der Zürcher Altstadt zu finden ist nicht absolut unmöglich: man muss aber das essenzielle Quäntchen Glück haben und von irgendwo oder irgend jemandem gesegnet sein. Oh, ja, und es hilft auch enorm, wenn du eine gute Bewerbung schreiben kannst.
Living the dream
Nach Aufenthalten in verschiedenen Zürcher Gemeinden – Egg, Stallikon und vor allem Zollikon, inklusive drei Büros im Zeitraum von 28 Jahren im Seefeld – kann ich in aller Ehrlichkeit behaupten, dass nichts das Leben in der Stadtmitte schlagen kann. Glücklicherweise höre ich wenig vom Rummel, nichts von den zahllosen Restaurants und Cafés, die in nächster Nähe liegen. Nur, wegen ihrer unmittelbaren Nähe, etwas zu viel von der Rämistrasse. Aber man gewöhnt sich an alles.
Einfach aus meiner Haustür laufen und direkt mitten drin zu sein ist ein unglaubliches Gefühl, auch wenn ich mich, vor allem im Sommer, durch Unmengen langsam schlendernder Touristen durchquälen oder ziemlich wilden und rücksichtlosen Velofahrern ausweichen muss.
Jetzt, wo ich im Dorf wohne, benutze ich den ÖV fast nie und laufe überall hin zu Fuss – gut für das Gemüt und auch für den Körper. Aber weil man genau weiss, wo man hin will, hat man natürlich ein bestimmtes Tempo, das von den Menschenmengen unvermeidlich gedrosselt wird.
Was sich auch geändert hat: Zum ersten Mal, seit ich in der Schweiz wohne, habe ich sowohl die Lust als auch die Zeit, am Leben in der Gemeinde, in der ich wohne, aktiv teilzunehmen. Da in der Altstadt zu wohnen, hat mir neue Perspektiven geöffnet und mir das Gefühl des Zugehörens gegeben. Innerhalb von zwei, drei Monaten habe ich den Quartierverein entdeckt und bin sofort Mitglied geworden. Ich geniesse es, immer wieder an den monatlichen Apéros in verschiedenen Bars neue Leute kennenzulernen. Es ist mir auch klar geworden, dass wennman eine Wohnung im Dorf findet, verlässt man es nicht so schnell. Ich spreche regelmässig mit anderen Dörflern, die zu meinem Erstaunen seit 40 oder 50 Jahren da wohnen.
So lange werde ich es wegen meines Alters mit Sicherheit nie schaffen.
Ich liebe es vor allem, die Altstadt – auch am linken Ufer der Limmat – zu entdecken. Wenige Sachen machen mir mehr Spass als nachts, vorzugsweise am Sonntagabend, wenn alle mit Sicht auf Montagmorgen früh ins Bett gehen, durch menschenleere Gassen zu laufen. Schmale Fusswege mit vielsagenden Namen wie Synagogen-, Chor-, Wohlleb- oder sogar Kaminfegergasse aufzustöbern ist mir eine grosse Freude. Und ja, vielleicht, wenn ich irrsinnig viel Glück habe, werde ich – notfalls auch in einem anderen Leben – dort eine schöne Wohnung finden können.
Aber das wäre vielleicht ein bisschen zu viel der Träumerei, oder?
Michael Johnson
Unser Gastschreiber
Michael Johnson (1950) ist in Blackburn im Nordwesten Englands aufgewachsen und studierte Anglistik, Germanistik und Philosophie.
1973 kam er «für zwei Jahre» nach Deutschland. Daraus wurden fünf Jahre in Essen, zwei Jahre in Malaysia und schliesslich Jahrzehnte in der Schweiz. Gelebt hat er als Englischlehrer und Übersetzer. In Luzern leitete er vier Jahre eine Englischschule, war ab 1987 in einem Werbebüro in Zollikon tätig und wohnte in der Umgebung von Zürich. 1989 gründete er eine Kommunikations-Agentur in Zürich, arbeitete als Texter. Er hat zwei erwachsene Kinder und einen Enkel und lebt seit einem Jahr in der Zürcher Altstadt. Er mag Kochen, Lesen, Kinobesuche und lernt gern Sprachen.
Foto: EM