Altstadt-Impressionen

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Unser Gastschreiber Nicolas Gabriel ist als Zeitungsverträger frühmorgens unterwegs. Und er hält die Augen und Ohren offen.

Übers Pflasterstein hören Sie mich des Morgens früh. Die Amseln sind schon wach. Und in der warmen Jahreszeit schwirren Mauersegler oder Schwalben (was wohl von beiden?) beim Münsterhof. Ich bin allein mit diesen Tieren (einmal gesellte sich ein Dachs dazu, grad bei der Wohllebgasse unterhalb des Lindenhofs – offenbar lebt es sich dort wohl), und mein Zeitungswagen klappert aufgeregt. Allein? Sind da nicht auch die, die vor uns waren? Die aus den Jahrhunderten zwischen 12 und 17 etwa? Es kann doch nicht sein, dass die, die alles hier aufgebaut haben, für alle Zeit verschwunden sind.

Jedenfalls fühle ich mich wohl um diese Zeit zwischen den Gemäuern. Es ist sicher klug, sein Tagwerk früh zu erledigen – der Abend und das Sich-etwas-Gönnen bricht dann schneller herein.


Menschen in der Altstadt

Und die Menschen, die hier wohnten? Hugo Loetscher zum Beispiel an der Storchengasse (in der Mitte zwischen Weinplatz und Münsterhof). Oder früher: Ida Bindschedler («Die Turnachkinder»), eine Metallplatte am Weinplatz zeugt von ihr. Oder Zürichs erster Bibeldrucker, nein, erste Bibeldruckerin, Storchengasse ebenfalls.

Die Stille wiegt sanft und schwer über dem Pflaster zur Geisterstunde. Mir wird bewusst: Wir leben nicht für den Zufall, wir leben in der Nachfolge unserer Ureltern, Urfreunde, Urnachbarn. Wir bauen weiter an ihren Werken. Wir führen ihr Denken weiter. Wir haben das gleiche Ziel: eine Altstadt, die in jungem Glanz erstrahlt.

Dabei haben sich auch Tragödien abgespielt, hier und früher. An der Schipfe zum Beispiel, am Platz zwischen Lädeli «Marktlücke» und Restaurant «Schipfe 16» (so nebenbei: auch ein Herzstück meines Zürichs) zeugt eine weitere Metallplatte davon. Menschlicher Wahnsinn, menschliche Hilflosigkeit vor allem: Unsere Blutsverwandten haben wir hier ertränkt, bzw. ihre Gedanken.

Denn Zürich ist, so wie ich es empfinde, religiös. Die Zwinglistadt. Heilig und unheilig. Auf der Brücke zwischen Münster Gross und Münster Frau sind sie aneinandergeraten einst, die Vertreter der Glaubenskontrahenten. Ins tödliche Nass fielen auch hier die Opfer.


Ein Anziehungspunkt

Unsere Altstadt ist ein Magnet. Aus aller Welt wird herangereist. In allen Kleidungsvarianten. Ich hoffe, wir sind uns auch bewusst, dass Touristenscharen uns berappen.

Woher kommt das Bedürfnis, Zürich einmal im Leben gesehen zu haben? Geht es um die chinesische Weisheit, die die Alten ehrt? Geht es ums Anknüpfen an früheres Handwerk, das Fundament des Computer-Zeitalters? Oder geht es gar um uns Zürcherinnen und Zürcher? Schlagen diese Besucher eine Brücke in erster Linie zu uns?

Ich will nicht verschweigen, dass uns auch Bedürftigte aufsuchen. Klar macht auch mir das zu schaffen. Wobei mir zugute kommt, dass ich dem Pensionsalter nahe komme. Da kennt man den Wert des Sichabgrenzenkönnens. Auch das ist, im guten Sinn, religiös.


Grosse Wortschöpfer

Nun aber auf ans andere Limmatufer! Die Geräuschkulisse ist dort imposanter. Draussen gelebt wird hier auch im Mondeslicht. Die Reinigungskräfte der Stadt haben tags drauf alle Besen und Bürsten voll zu tun. Die Abfallbehälter schreien aus voller Kehle. 

Aus meiner Sicht darf Gottfried Kellers Name hier nicht fehlen. Seine Seldwyler bist du, bin ich. Gottfried Keller ist Juwelier. Seine Wörter sind Perlen, seine Worte Halsbänder. Gönnen wir uns, vielleicht einmal im Jahr, den Besuch ist sein Geisteshaus.

Oder Friedrich Glauser. Der es verstand, das Schweizerdeutsche ins Schöndeutsche zu integrieren. Wir finden nah beim Central die Gasse seines Namens. Sie ist so kurz wie Gassen anderer grosser Wortschöpfer: Robert Walser (St. Peterhofstatt, an Goethes Weilestätte grenzend), Kurt Guggenheim (auf dem Strassenschild – seeseitige Bahnhofstrasse – sein Hauptwerk, das Zürich zum literarischen Urgestein macht: Alles in Allem), C.F. Meyer (Enge), Jeremias Gotthelf (Wiedikon).

Besonders hervorheben möchte ich die Kirchgasse. Ja, sie hat es mir angetan. Ich kriege da die Halskehre, so unablässig wende ich mich beim Hinabgehen nach allen Seiten. In der Mitte wohnte unter anderen das Ehepaar Uchtenhagen. Herrn Uchtenhagen durfte ich kurz kennenlernen, ihn, den modern-sozialen Psychiater und Künstler. Das macht den Wert solcher Begegnungen mit Prominenz aus: Sie machen einen selbst gross, reich und glücklich.


Besondere Menschen

An einer Grossmünsterseite entdecke ich, gen Norden zu, in Stein gemeisselt, den italienischen Namen eines einfachen Arbeiters. Der in Erledigung seiner beruflichen Pflicht zu Tode stürzte. Solches bewegt mich immer. Solche Menschen will ich zurückholen. Wie auch den Feuerwehrmann, der, für mich wahrlich ein Held, im brennenden Zunfthaus zur Zimmerleuten sein Leben liess. Ich arbeitete damals zur Abendstunde auf der Rudolf-Brun-Brücke und mulmig wurde mir. Dass ein Zuviel an ehrlichem Fleiss dermassen bestraft werden muss.

Vor kurzem fand ja auch die Rad-WM in Zürich statt. Ich erschrak da ob der Schnelligkeit des Trosses am Limmatquai. Mensch, dachte ich, die rasen da Rad an Rad, wenn da nur keiner die Konzentration verliert. Und ein Dienstmann sprang auf die Fahrbahn, einer gefährdenden Aludose wegen.

Ein Lob gebührt auch der Stadtpolizei. Ihr Zentrum grenzt ja an die Altstadt. Ihr Beruf erfordert viel, inmitten der Hektik. Ich könnte das nie, bekäme es mit der Angst zu tun. In jüngeren Jahren hatte ich ein paar Mal «Lämpe» mit der Polizei – jetzt verstehe ich, dass Gewalt sich ihr manchmal aufdrängt.

Schliesslich, zu guter Letzt, das Kunsthaus. Und die vielen Galerien. Und Hanny Fries. Und Varlin. Max Bill. Wilfried Moser. Harald Nägeli. H.R. Giger. Die Stadtzürcher Originale. Das Musée Visionnaire. Und die überwiegende, hier leider namenlose Mehrheit. 

So ein Zeitungsartikel ist ja ein Brief. Von mir zu Ihnen. Da will ich das Schöne hervorheben. Um Ihnen, und vor allen Dingen mir, Freude zu machen. Wir haben es schön in dieser Stadt. Vergessen wir das nicht. Dänn chunnt alles guet!


Nicolas Gabriel



Unser Gastschreiber

Nicolas Gabriel (1964) ist in Strassburg, Bonn und Zürich aufgewachsen, wo er die Matura erlangte und Jus studierte, mit Abschluss 1988. Dann litt er an einer psychischen Erkrankung, bis 1994. Er arbeitete fünf Jahre als Nachtwache bei einem Behindertenheim, arbeitete bei Swiss Life, machte Übersetzungen, hatte Gelegenheitsjobs. 1996 bis 2002 hat er mit seiner damaligen Frau in Biel gelebt. Nach seiner Rückkehr nach Zürich war er 2003 bis 2018 obdachlos. Seit 2003 arbeitet er als Zeitungsverträger und verkauft in der Altstadt das Strassenmagazin «Surprise». Ab 2018 logierte er zwei Jahre bei der Heilsarmee, seit einigen Jahren wohnt er in Witikon. Er interessiert sich für Malerei und Literatur. Für «Surprise» macht er zweimal pro Woche soziale Stadtführungen.


EM