Jean-Pierre Besson
Jean-Pierre ist stark. «Ist», weil er noch lebt. Wie wir alle, wenn wir gestorben sind (bhaupti).
Jean-Pierre war alt. Ok, 78 ist kein Alter. Aber nach über zwanzig Jahren ohne Zuhause, draussen zwischen Boden und Himmel, nachts unter einem Vordach in der Altstadt (beim «Veltliner Keller», behütet zwischen Fraumünster und St. Peter), da zählen die Jahre doppelt.
Als älterer Mensch war er ruhig und vorsichtig. Immerzu achtsam. Als wandle er in einer Porzellankiste. Mit einer Ausnahme: zweimal fiel er in die Limmat. Vom Mäuerchen an der Schipfe. Einmal hatte nicht genügt. Unverbesserlich halt.
Hier auf einer Bank an der Schipfe hat er sich oft aufgehalten. In früheren Jahren hat er auf dem Flughafen gearbeitet.
Jean-Pierre war zufrieden. Fast immer. Oder wenigstens sehr oft. Als Franzose speiste er genüsslich. Ganz ohne Stress. Draussen und drinnen. Tagsüber, wenns bedenklich kalt ist, kannst du in Innenräume, als Obdachloser. Jean-Pierre wurde geschätzt. Das öffnete ihm Türen.
Reich war er nie. Aber klug genug, auf die Seite zu legen. Er führte, rappengenau, Buchhaltung.
Und man half ihm. Gerade das hat er gebraucht. Klar hat er die materiellen Zuwendungen auch nötig gehabt. Aber es ging tiefer.
Er ist zwar Franzose geblieben, aber (bhaupti wieder mal) zugleich Schweizer geworden. Die Gastfreundschaft im Kreis 1 hat es ihm angetan.
Die Gastfreundschaft. Sie muss auch ihre Grenzen haben. Ich selbst schlief viele Jahre draussen. Geld war wichtig. Aber konnte auch gefährden. Nicht wegen einer Sucht. Nein, die Achillessehne waren meine Zähne. Nahrung ist gut, aber Zahnschutz auch.
Jean-Pierre hatte kaum noch Zähne. Dafür den unbändigen Durst zu lesen. Zeitungen. Etwa Fussball.
Das schönste Tor hat er zuletzt erzielt. Er ist gegangen: würdevoll.
Nicolas Gabriel
(Jean-Pierre Besson ist im Dezember 2024 im Universitätsspital gestorben.)