«Sprayer von Zürich»: «Es geht mir um eine Verzauberung der Aussenwelt»
Die einen freut es, andere bedauern, dass Harald Naegelis Sprayereien mit wenigen Ausnahmen aus dem Zürcher Stadtbild verschwunden sind. Umso dankbarer nimmt man das kürzlich erschienene Buch zur Hand, welches das Leben und die Werke des «Sprayers von Zürich» in Texten und Gesprächen aus den Jahren 1979 bis 2022 dokumentiert und erklärt. Der Journalist Urs Bühler, Mitherausgeber des Bandes, beschreibt im Vorwort, wie seine Annäherung an den schwer zugänglichen Künstler nach vielen Treffen und Gesprächen schliesslich zu einer freundschaftlichen Verbundenheit führte, welche die vorliegende Publikation ermöglichte.
Eigene Aufsätze und Reden Naegelis, Interviews in verschiedenen in- und ausländischen Zeitschriften, Tageszeitungen, Radio- und Fernsehsendungen und viele Illustrationen vermitteln ein facettenreiches Bild des provozierenden Sprayers, seines Werdegangs, seiner eigenwilligen Kunstauffassung und seines unerschrockenen politischen Engagements.
Als anonymer Urheber der im Schutz der Nacht geschaffenen Graffiti an öffentlichen und privaten Häusern in Zürich erregt er Aufsehen, wird 1979 von der Polizei auf frischer Tat ertappt und gerät wegen Sachbeschädigung in die Mühlen der Justiz. Sein Leben wird zur abenteuerlichen Achterbahn zwischen Gerichtsverfahren, Flucht ins Ausland, Verurteilung zu Schadenersatzzahlung und mehrmonatiger Haftstrafe, was ihn jedoch nicht davon abhält, seine künstlerischen Protestaktionen im öffentlichen Raum fortzusetzen. Während 35 Jahren lebt Naegeli im selbstgewählten Exil in Deutschland und hinterlässt auch in Düsseldorf, Stuttgart, Köln, ja sogar in Venedig seine Spuren mit immer neu entwickelten Figuren, Fabelwesen, Augen, Fischen, nackten Frauenkörpern oder Blitzen.
Die an verschiedenen Orten, darunter auch als Totentanz-Folge in den Grossmünster-Türmen, angebrachten Skelette gehören zu Naegelis späten Ausformungen. Den Gegensatz zu diesen spontan hingeworfenen, raumgreifenden Strichen an Mauern und Wänden bilden die filigranen Bleistift- und Tuschzeichnungen in Hunderten von Skizzenbüchern; sie wurden in renommierten Kunstmuseen, nicht zuletzt auch wiederholt im Zürcher Musée Visionnaire am Predigerplatz, ausgestellt.
Glücklicherweise ist Naegelis vergängliches Schaffen im öffentlichen Raum, mit dem er laut eigener Aussage die Aussenwelt verzaubern wollte, in zahlreichen Fotos festgehalten, deren Wiedergabe zum besonderen Wert des Buches beiträgt.
Matthias Senn
Harald Naegeli, «Den Vogelflug, die Wolkenbewegung misst man auch nicht mit dem Zollstock!». Der «Sprayer von Zürich». Texte und Gespräche, 1979 bis 2022, herausgegeben von Urs Bühler und Anna-Barbara Neumann; Nimbus Kunst und Bücher, Zürich 2024, 272 Seiten, reich illustriert, Fr. 41.90.