Urbanität und dörfliches Flair

Bild zum Artikel

Unsere Gastschreiberin ist in ländlicher Umgebung aufgewachsen und schätzt heute das Leben mit ihrer Familie am Rand der Altstadt, im Zentrum von Zürich.

Schon früh hatte ich eine besondere Verbindung zu Zürich. Meine Patentante, die Schwester meines Vaters, lebte seit Jahrzehnten im Kreis 5. Als Teenager unternahm ich erste selbständige Ausflüge in die Stadt, um sie zu besuchen. Die erste meiner Reisen bleibt mir in besonderer Erinnerung: Ohne Handy und mit wenig Erfahrung stieg ich in die S-Bahn statt in den Schnellzug – ein kleiner, aber folgenschwerer Fehler. Statt oberirdisch am Hauptbahnhof anzukommen, fand ich mich in einem unterirdischen Labyrinth wieder. Nach zahlreichen Telefonaten aus einer öffentlichen Kabine und anderthalb Stunden Verzögerung traf ich meine Patentante schliesslich in der Bahnhofshalle. Diese Episode war mein erstes Abenteuer in Zürich – und sicher nicht das letzte. Diese Episode prägte meine Faszination für die Stadt, die später zu meiner Heimat wurde.


Zentrale Lage

Nach meiner Ausbildung zur Physiotherapeutin in Schinznach-Bad führte mich die Liebe nach Zürich. 2006 bekamen mein Partner und ich eine Wohnung im Kreis 1, am Rand der Altstadt. Diese zentrale Lage bot uns eine neue Lebensqualität: kurze Wege, eine lebendige Gemeinschaft und ein urbanes Leben ohne Auto. 

Ich kann mich gut an die Wohnungsbesichtigung erinnern: meine Begeisterung wuchs mit jedem neuen Raum. Der Blick auf den gepflegten Garten des Pfrundhauses, die vergleichsweise ruhige Strasse trotz der Lage so nah am Central – all das fühlte an sich wie ein Geschenk. Heute weiss ich, dass es in der Altstadt noch verwinkeltere, prächtigere oder weitläufigere Wohnungen gibt, mit Stuckdecken, Erkern oder hohen Fenstern, doch unsere Bleibe bleibt ein Schatz. Wir fühlen uns privilegiert, im Herzen der Stadt zu wohnen, umgeben von Geschichte und Leben. Heute, 19 Jahre später, leben wir mit unseren beiden Söhnen immer noch hier und schätzen die Freiheit, die uns unser Quartier bietet.


Dorf im Herzen der Stadt

Die Altstadt von Zürich ist ein Ort voller Gegensätze. Ihre verwinkelten Gassen, historischen Fassaden und versteckten Innenhöfe erinnern mich an mein Heimatdorf und bieten eine vertraute Geborgenheit. 

Besonders sonntags entfaltet sich ein fast dörfliches Flair: das Plätschern der Brunnen, Begegnungen mit Bekannten und eine entschleunigte Atmosphäre. Manchmal träume ich davon, noch tiefer in die Altstadt zu ziehen, vielleicht in eine Wohnung mit Blick auf die Limmat oder in einem versteckten Gässchen, statt nur am Rand dieses einzigartigen Viertels zu leben.

Das kulturelle Angebot ist beeindruckend: Theater wie das Stok, wechselnde Ausstellungen in Museen, das Limmatschwimmen und das Neumarktfest bereichern das Quartier. Die Badis, die Cafés mit ihren Terrassen und die Bars sorgen für urbanes Flair. Für Familien gibt es zahlreiche Angebote wie das Altstadthaus oder den Elternverein.


Herausforderungen

Doch das Leben in der Altstadt hat auch Herausforderungen. Die lauten Feste hinterlassen oft Abfall und unangenehme Gerüche. Baustellen beeinträchtigen Wege, und die engen Gassen sind für Rollstühle oder Kinderwagen teils schwer passierbar. Der Weg vom Hirschengraben in die Altstadt mit der Überquerung des vielbefahrenen Seilergrabens bleibt für Kinder eine Herausforderung, und viele Trottoirs sind für Rollstühle oder Kinderwagen nur schwer zugänglich. In den engen Gassen fehlt oft die Kraft, die Vorderräder eines Rollstuhls anzuheben, und zahlreiche Altbauten ohne Lift stellen für Menschen mit eingeschränkter Mobilität ein Hindernis dar. Wer unter Gelenkschmerzen, Atemnot oder schwindender Kraft leidet, sieht sich im Alter oder zum Beispiel nach einer Reha oft vor die Wahl gestellt, ständig in der Wohnung zu bleiben oder ein neues Zuhause zu suchen.

Als selbständige Physiotherapeutin erlebe ich diese Herausforderungen bei Hausbesuchen aus nächster Nähe. Doch ich sehe auch die positiven Seiten: Die Treppen, die für manche ein Hindernis sind, halten andere bis ins hohe Alter fit. Es ist keine Seltenheit, dass Bewohner mir erzählen, wie sie täglich die Stufen meistern, um am Leben der Altstadt teilzunehmen – sei es für einen Marktbesuch, einen Kaffee mit Freunden oder einen Spaziergang an der Limmat. Diese Herausforderungen werden zur Quelle von Stärke und Selbständigkeit, ein Paradoxon des Altstadtlebens.


Engagement für die Gemeinschaft

Zwischen Familie, Arbeit, Freunden und Hobbys bleibt kaum Zeit. Doch Engagement ist für mich unverzichtbar. Sei es in einem Verein, wie ich im Elternverein Altstadt, im Quartier, in der Schule oder bei der Nachbarschaftshilfe – nur durch freiwilliges Mitwirken entsteht eine lebendige Gemeinschaft. In der Altstadt gibt es unzählige Möglichkeiten, sich einzubringen. Dieses Engagement stärkt nicht nur das Zusammenleben, sondern wirkt auch der Vereinsamung entgegen, die in einer Grossstadt wie Zürich trotz aller Nähe drohen kann. 

Nicht jedes Anliegen findet Gehör, doch beharrliches Dranbleiben zahlt sich aus. Ob es um den Erhalt von Grünflächen, bessere Zugänglichkeit oder das Fortführen von Festen im Quartier geht: Probieren geht über Studieren. Für mich ist dieses Mitwirken ein Ausdruck von Verantwortung und Verbundenheit mit meinem Zuhause. 

Die Altstadt lebt von den Menschen, die sie bewohnen, und ich bin dankbar, Teil dieser Gemeinschaft zu sein, hier leben und arbeiten zu dürfen. 


Sushama Brunner



Unsere Gastschreiberin

Sushama Brunner, 1979 in Mumbai geboren und mit zwei Jahren nahe Baden adoptiert, wuchs in einem Dorf mit 700 Einwohnern auf. Nach der Schulzeit in Obersiggenthal und der Kantonsschule Wettingen (Matura) absolvierte sie die Ausbildung 

zur Physiotherapeutin, die sie 2003 in Schinznach-Bad abschloss. Sie ­arbeitete im Inselspital Bern, wo sie ihre Fachkenntnisse vertiefte und das Stadtleben für sich entdeckte. Sie pendelte zwischen Baden und Bern. Heute lebt sie mit ihrem Lebensgefährten Valéry und den zwei Söhnen am Rand der Altstadt. Sie arbeitet Teilzeit bei der Klinik Susenberg sowie als selbständige Physiotherapeutin auf Hausbesuch. Sie zeichnet gern, singt, musiziert, betreibt Sport und engagiert sich im Vorstand des Elternvereins Altstadt.


Foto: EM