Die Kindergärtnerin Regula Keller geht in Pension

Regula Keller war zwanzig Jahre im Kindergarten am Neumarkt 8 tätig. Unzählige Altstadtkinder haben bei ihr eine wichtige Zeit ihres Lebens erlebt. Nun geht sie in Pension.

Samstag, 8. Juli. Das Sommerfest im Kindergarten am Neumarkt ist auch ein Abschiedsfest, denn die Mehrzahl der Kinder wird nach den Ferien in die Schule übertreten, und die Kindergärtnerin Regula Keller geht in Pension. Die Kinder zeigen eine hinreissende Zirkusaufführung. Als Überraschung hat Regula einen Clown bestellt, niemand anders als Roy Bosier, der auch für Fellini gespielt hat. Roy hat allerdings in eigener Regie auch für die Kindergärtnerin eine Überraschung vorbereitet: er schlägt sie zur «Ritterin der Altstadt» und überreicht ihr im Namen des Quartiers den Ehrendoktorhut samt Urkunde für «Kindergarten-Wissenschaften».

Schöne Ausstrahlung
Mittwoch, 12. Juli, kurz vor halb neun. Regula hat das meiste weggeräumt und die Kinderzeichnungen von den Wänden genommen. Ungewohnt nüchtern präsentiert sich der einstöckige Pavillon auf der Hinterseite der Liegenschaft «Zum Tannenberg», doch er behält auch undekoriert seine schöne Ausstrahlung. Früher stand hier eine Wirtschaft mit Kegelbahn; nach dem Umbau von 1959 lobte die NZZ: «Ein Anbau im Hof wurde beseitigt, dafür ein Kindergarten nach modernen Grundsätzen eingerichtet, und Tag für Tag ziehen die munteren Kinder des Quartiers unter der Haustür mit den Tannen ein.» Zwanzig Jahre hat Regula hier gearbeitet, sie hofft, dass der Raum allen schulischen Veränderungen zum Trotz für Kinder erhalten bleibt.
Nach und nach treffen die einundzwanzig Mädchen und Buben ein, eine besonders grosse Klasse, da es nach der Schliessung des Kindergartens Trittligasse mehr Eintritte gab. Regula Keller teilte sich darum im letzten Jahr das Pensum mit Ursina Spescha. Zum Unterrichtsbeginn wird gesungen und getanzt, dann berichten die Kinder, was ihnen an der Zirkusaufführung besonders gefallen hat und führen es gleich vor. Darauf erzählen sie abwechselnd mit der Kindergärtnerin eine Zirkusgeschichte nach einem Bilderbuch. In diesem spielerischen Unterrichtsblock ist viel verpackt: Sprache, Bewegung, Musik, Erinnern und Vertiefen. Der Tag ist heiss, darum zieht Regula nach der Pause mit den Kindern zum Brunnen am Leuenplatz.

Nicht den besten Ruf gehabt
1942 in eine Lehrerfamilie geboren und in Zürich aufgewachsen, wusste Regula Keller schon früh, dass sie einmal mit Kindern arbeiten würde. Nach dem Kindergartenseminar amtete sie als Vikarin und absolvierte zwei Auslandjahre als Erzieherin. 1968 heiratete sie Peter Keller, der damals Chemie studierte und später Mittelschullehrer wurde. Nach der Geburt von Florian und einem kurzen Aufenthalt im Grünen fand die Familie die Wohnung am Rindermarkt, und bald kam Tochter Selina zur Welt. Dank ihrer Lehrberufe konnten beide Eltern arbeiteten und sich an der Erziehung beteiligen. Regula leitete unter anderem einen «Experimentierkindergarten», mit monatlicher Vollversammlung. Dort habe sie gelernt, sich mit Eltern auseinander zu setzen. Ihre besten Freundschaften stammten aus dieser Zeit. Als Yvonne Zangger, die langjährige Kindergärtnerin am Neumarkt, 1986 pensioniert wurde, erhielt Regula Keller die Stelle. Es habe kaum andere Bewerberinnen gegeben, denn das Quartier hatte auswärts nicht den besten Ruf: «Drogen, Milieu, Beizerfamilien.»

Vertrautes Du
Wie kommt es, dass Regula Keller von Eltern und Kindern geduzt wird? Als frühere Leiterin der Spielgruppe Helferei war sie mit den meisten Quartierkindern schon per Du, und es wäre schwierig gewesen, im Kindergarten das Sie zu verordnen. Das Du hielt sich über alle Jahrgänge, ohne Kritik von den Behörden. Für Regula Keller, die seit dreiunddreissig Jahren am Rindermarkt wohnt, hat die Nähe von Privatsphäre und Arbeitsplatz nie zu Komplikationen geführt, im Gegenteil, so habe sie besser gespürt, wie es den Familien ging. Wenn nötig, konnte rasch geholfen werden, Kindergarten sei immer auch Quartierarbeit. In dieser Beziehung hat sie tragfähige Netze geknüpft, mit den Kirchen, der Schule und dem GZ Altstadthaus, aber auch zwischen Kindern und Nachbarn. Erwähnt seien nur das Adventssingen bei Helen Faigle oder die Mitarbeit für Radiosendungen und Bücher von Silvia Hüsler. Regula lobt die gute Nachbarschaft mit der Familie Michel, die hinter dem Kindergarten wohnt. Michèle Heri Michel habe den geteerten Hof zu einem wunderbaren Garten umgestaltet, der zwanzig Kindern Platz biete. Das Malatelier wurde von einer Mutter angeregt. Inzwischen hat es die Lehrerschaft Hirschengraben übernommen. Regula wird bei Bedarf für die Schüler Kurse geben, feste Verpflichtungen möchte sie noch nicht annehmen. «In meinem Leben ist immer alles auf mich zugekommen, ich bin sicher, dass es so weitergeht.» Fest steht, dass sie ihr Englisch vertiefen will und weiterhin mit ihrem Mann die drei Enkel betreut, alles andere sei offen.
Zwischen Experimentierkindergarten und Blockzeitenunterricht hat Regula Keller viele pädagogische Wandlungen erlebt, und sich stets weiterentwickelt. Nie habe ihre Freude am Beruf nachgelassen: «Es geht eben vorwärts, bei jedem Kind. Wenn man sie entlässt, haben sie sich sehr entwickelt.» Höhepunkte? «Die Feste im Sommer und das Adventscafé Stern im Winter waren Glanzpunkte im Jahr, aber sonst ist mit Kindern jeder Tag ein Höhepunkt.»

Daniela Donati


Nachfolge
Als Nachfolgerin von Regula Keller wird Beatrice Rudin den Kindergarten am Neumarkt mit voraussichtlich zweiundzwanzig Kindern weiterführen. Sie war zuvor im Kindergarten an der Trittligasse tätig, der vor einem Jahr geschlossen wurde. In der Zwischenzeit wirkte sie in Witikon. Beatrice Rudin erreicht in zwei Jahren das Pensionsalter. So lange scheint der Verbleib des Kindergartens am Neumarkt gesichert; ob man sich danach für die Weiterführung am alten Ort und gegen eine geplante Verlegung ins Schulhaus Hirschengraben wird wehren müssen, wird sich zeigen.

EM