Ich bin da aufgewachsen

Bild zum Artikel

Unser Gastschreiber Reto Panchaud ist als Wirtesohn am Neumarkt ­aufgewachsen und hat auch immer wieder ausgeholfen im Restaurant der Eltern, in der «Kantorei». Dem Haus ist er bis heute verbunden.

Am 14. März 2025 fand in der gut besuchten Predigerkirche die Abdankung meiner lieben Mutter Ingrid Panchaud statt. Die Trauergemeinde begab sich danach in die Kantorei, um der kurz vor ihrem 100. Geburtstag Verstorbenen noch einmal zu gedenken. 

Damit schloss sich ein Kreis, der im Jahre 1968 mit der Eröffnung der «Kantorei» seinen Anfang gefunden hat. Meine Eltern waren die ersten Gastgeber der am Fusse der Universität durch Wolfgang Behles umgebauten Gaststätte. Dort sind meine Geschwister und ich aufgewachsen. Nach dem Besuch der Sekundarschule im Schulhaus Hirschengraben absolvierte ich das Wirtschaftsgymnasium Freudenberg in der Enge. Anfänglich wohnten wir noch in der Wirtewohnung mit Blick auf den Neumarkt und den Jupiterbrunnen. 

Wirtekinder sind abends oft alleine und so habe ich es vorgezogen, in der «Kantorei» am Buffet oder auch in der Küche mitzuhelfen. Während den Studienjahren konnte ich zudem in den Semesterferien gutes Geld als Kellner verdienen. 

Dies war auch eine Chance, die zahlreichen Neumarktanwohner, welche die gastliche «Kantorei» regelmässig besuchten, näher kennenzulernen.


Grande Dame

Dazu gehörte insbesondere die Grande Dame des Quartiers, Colette Ryter, die am Neumarkt 15 in zwei Zimmern die erste Galerie für Tapisserie eröffnet hatte. Nebst Tapisserien, Serigraphien, Gouachen, Stoffen und Keramiken von Lurçat, Robert Gessner, Margaretha Dubach, Emile Szittya führte sie auch die prächtigen Schöpfungen von Prassinos im Programm. Der warme, vornehm in braunen Tönen gehaltene Wandteppich mit dem Titel «Les finacées turcs au rideau oranges» zierte während vielen Jahren die «Kantorei». Wandteppiche lassen ans Theater denken (Mario Prassinos)! In der «Kantorei» verkehrte Frau Ryter fast täglich, sprach mit Künstlern und offerierte ein Gläschen. Colette Ryter hat in diesen Teppichen gelebt, hat sie geliebt, hat in ihnen, dort in ihrer Wohnung um ihren Tisch, das Leben zelebriert. Otto Müller, der ein Nachwort zu ihrer Trauerfeier geschrieben hat, nannte sie in einer euphorischen Anwandlung zur Generaloberin der Kunst. 


Theater und Politik

Sie besuchte regelmässig die Theateraufführungen am Neumarkt. Heribert (Horst) Zankl hielt Hof an der Bar der «Kantorei». Tina Engel lachte aufschreckend laut und Nikola Weisse hatte für das Stück «Der Ritt über den Bodensee» eine Glatze. Siggi Schwientek lächelte in sich hinein, und Peter Siegenthaler hatte in Zürich ein Debüt besonderer Art: Er war der erste wirklich nackte Mann auf der Bühne. Mit den grossartigen Schauspielern Nikola Weisse, Wolfram Berger und Tina Engel sowie dem unvergesslichen Regisseur und Theater­macher Horst Zankl pflegte Ryter ein freundschaftliches Verhältnis. In dieser Zeit entwickelte sich das kleine Zürcher Theater zu einem Zentrum des politischen Theaters in der Schweiz. Zankls Arbeit gilt noch heute als Pionierleistung des kritischen Theaters. Gross war mein Bedauern, als er die grösseren Bühnen im deutschsprachigen Raum mit seinen düsteren, gesellschaftskritischen Stücken bespielte und dem Neumarkt den Rücken kehrte. 

In jener Zeit spiegelte der Neumarkt die Spannungen und Dynamiken einer Stadt im Umbruch. Während Teile der Bevölkerung an den Traditionen festhielten, forderten andere eine radikale Neugestaltung von Gesellschaft und Stadtleben.

Die aufkommende Jugendbewegung, die sich Anfang der 1980er-Jahre in den Opernhauskrawallen entlud, hatte hier bereits ihre Wurzeln. Auch wir wurden Zeugen der jugendlichen Gewalt, als uns an einem Weihnachtsabend die Polizei darüber informierte, dass die Scheiben der «Kantorei» eingeschlagen wurden. Es blieb uns nichts anderes übrig, als das traute Weihnachtsessen abrupt abzubrechen um die Fensterfront der «Kantorei» mit einem Holzverschlag zu versehen. Das Fest war da natürlich zu Ende. 

In der Küche der «Kantorei» machte der spätere Stadtwanderer Benedikt Loderer für einen Zusatzverdienst seine Anlehre als Commis. Genüsslich schildert er im Jubiläumsbuch «Fünfzig Jahre Kantorei» seine grundlegenden Entdeckungen: Gastgewerbe ist, wenn es nicht aufhört und nichts zurückbleibt. Eine Küche ist ein Lernort der Vergänglichkeit. Alles weggeputzt, nie bleibt ein Werk.


Das Gute suchen

Zuweilen besuchte uns der Kragenbär, René Hüssy, der damalige Trainer der schweizerischen Nationalmannschaft. Ein Turm von einem Mann und ein angestauntes Ereignis. Und auch Ex-Stapi Emil Landolt beehrte den Neumarkt regelmässig mit Stadtführungen. Er war ein gern gesehener Zeitgenosse im Quartier, dem viele Türen offenstanden. Einst hat er Johann Caspar Lavater zitiert: «Wo Du hinkommen magst, ist Gutes und sind Gute. Der Gute sucht Gutes und Gute und findet beides, allenthalben.» An diese Worte muss ich denken, wenn ich regelmässig den Neumarkt besuche. Dies unter anderem bei der Ausübung meines ehrenamtlichen Mandates als Präsident des Vereins Verbindungshaus Zürcher Singstudenten, der langjährigen Eigentümerin des Hauses. Dass wir Singstudenten unsere «Kantorei» als «Nabel vom Neumarkt» sehen könnten, wird niemand verwundern. Das Haus ist nun beinahe seit sechzig Jahren der Mittelpunkt unseres Verbindungslebens und trotz einiger baulicher Veränderungen eine Konstante, unsere Heimat. Kein Mensch definiert sich nur aus sich selbst, sondern er wird auch durch die Wahrnehmung seiner Mitmenschen geformt. Erfreut dürfen wir feststellen: Für die Nachbarinnen und Nachbarn der «Kantorei» überwogen und überwiegen auch heute noch die positiven Aspekte eines einladenden, gut geführten Restaurants – trotz den durchaus auch wahrgenommenen Reibungsflächen.


Reto Panchaud



Unser Gastschreiber

Reto Panchaud (1954) ist in einer Wirtefamilie aufgewachsen. Seine Eltern führten das Restaurant «Kantorei» (zwanzig Jahre) und parallel das Café «Rindermarkt» und das Restaurant «Neumarkt». Sekundarschule Hirschengraben, Wirtschaftsgymnasium Freudenberg, sodann Wirtschaftsstudium an der HSG St. Gallen mit Abschluss 1981. Danach hat er bei der UBS gearbeitet, bis 2005, davon dreieinhalb Jahre in New York und dreieinhalb Jahre in Madrid (als Leiter des Spaniengeschäfts). Sodann hat er bei der Commerzbank erst das Private Banking Zürich geleitet, dann für die Bank Vontobel die skandinavischen Länder, bis 2018. Seither ist er selbständig tätig. Er war fünfzehn Jahre im Verwaltungsrat des ZFV mit dreitausend Mitarbeitenden, bis 2022. Seit dem Studium ist er bei den Singstudenten, heute Präsident des Vereins Verbindungshaus Zürcher Singstudenten. – Er ist verheiratet, hat drei Kinder und vier Enkelkinder und wohnte in Gock­hausen, seit zehn Jahren wieder in Zürich, an der Europaallee.


Foto: EM