In der Altstadt angekommen

Bild zum Artikel

Die Gastschreiberin dieser Nummer kommt aus Belgien und lebt seit einem Jahr in der Schweiz. Sie arbeitet in der Zürcher Altstadt, die sie wegen ihrer Lebendigkeit sehr schätzt.

Letztes Jahr habe ich mir endlich einen Traum erfüllt, den ich schon lange hatte: ein Auslandaufenthalt. Ich wollte das schon ewig machen, aber die meisten Ziele waren einfach zu teuer. Eines Abends sprach ich mit meiner Stiefmutter Maja darüber.

Plötzlich sagte sie: «Warum machst du das eigentlich nicht in der Schweiz? Wir haben doch Familie dort, und ich komme ja aus der Schweiz.» Das klang auf einmal so logisch. Plötzlich musste ich gar nicht mehr so weit suchen.


Auf Jobsuche

Als ich dann tatsächlich ankam, war es doch anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Klar, ich kannte schon ein paar Leute hier, aber das heisst nicht, dass ich mich gleich zu Hause fühlte. Ein neues Land, eine andere Art zu leben – ich wusste, dass es Zeit brauchen würde, um wirklich meinen Platz in der Schweiz zu finden. Und wenn ich bleiben wollte, brauchte ich sowieso einen Job. Also habe ich mich auf die Suche gemacht.

Genau vor einem Jahr spazierte ich durch das Niederdorf – mit meinem Lebenslauf in der Tasche und dem Plan, hier wirklich zu leben und zu studieren. Ich mochte das Niederdorf schon immer: die engen Gassen, die alten Gebäude, die kleinen Cafés… Für mich war sofort klar, dass ich hier gerne arbeiten würde.

Aber um ehrlich zu sein, hatte ich nicht viele Erwartungen. Bis ich an der «Äss-Bar» vorbeikam. Irgendetwas in mir sagte: «Geh einfach rein.» Also bin ich reingegangen und habe mit meiner jetzigen Chefin gesprochen. Wir haben uns sofort gut verstanden, und ehe ich mich versah, hatte ich einen Job. Und damit auch die echte Chance, hier etwas aufzubauen. Das war der Anfang meines Lebens in Zürich.


Lebendiges Zentrum

Ich komme aus Brügge, einer Stadt, die vielleicht genauso schön ist wie Zürich – auch wenn ich das selbst sage. Die Kanäle, die Fassaden, die Brücken… Manchmal wirkt alles wie ein Märchen oder ein Filmset. Aber gleichzeitig fühlt sich Brügge auch ein bisschen wie eine Touristenkulisse an. Besonders abends, wenn die Touristinnen und Touristen weg sind, ist es sehr ruhig. Zürich fühlt sich ganz anders an. Natürlich ist es hier auch alt und schön, aber die Stadt lebt. Vor allem die Altstadt – sie ist lebendig. Das ist für mich der grösste Unterschied: In Brügge ist das Zentrum eher eine Kulisse, in Zürich ist es ein Ort, an dem Menschen leben, arbeiten und sich begegnen.

Am Anfang musste ich mich schon an vieles gewöhnen. Alles ist hier so organisiert, so genau. In Belgien läuft vieles ein bisschen lockerer, etwas langsamer – und manches funktioniert einfach nicht so reibungslos wie hier. Deadlines sind da eher Empfehlungen. In der Schweiz habe ich gelernt, wie wichtig Pünktlichkeit ist – und dass «pünktlich» eigentlich bedeutet: fünf Minuten zu früh.

Trotzdem habe ich mich schnell willkommen gefühlt. Es heisst ja oft, Schweizer seien etwas distanziert – und vielleicht stimmt das anfangs auch ein bisschen. Aber ich habe vor allem gemerkt: Wenn man selbst ­offen ist und ein bisschen Geduld hat, sind die Menschen hier wirklich freundlich. Ehrlich, ruhig, interessiert. Bei der Arbeit, aber auch sonst. Ich musste dem Ganzen einfach etwas Zeit geben.

Meine Arbeit in der «Äss-Bar» hat mir sehr geholfen, mich hier zu Hause zu fühlen. Nicht nur, weil es mein erster Job hier war, sondern auch, weil ich sofort im Team aufgenommen wurde. Und ich finde es auch schön, dass es nicht einfach nur eine Bäckerei ist. Die Idee hinter der «Äss-Bar» – Lebensmittel retten, gegen Verschwendung – hat mich sofort angesprochen. So ein Konzept gibt es in Belgien noch nicht wirklich. Da steckt ein ­Gedanke dahinter, und das finde ich wichtig. – Und ich merke, dass ich immer mehr Gesichter erkenne. Menschen, die regelmässig kommen, Stammkundinnen und -kunden, Begegnungen, kurze Gespräche. Für mich war es richtig schön, in einer anfangs fremden Stadt Menschen wiederzuerkennen. Das gab mir das Gefühl, dass ich hier langsam meinen Platz finde. Eine ältere Frau, die jede Woche vorbeikommt, ein Tourist, der mich etwas fragt, jemand aus dem Quartier, der ein bisschen plaudern will. Solche Momente geben mir das Gefühl, dass ich wirklich verbunden bin mit diesem Ort – und dass ich hier angekommen bin.


Ein echtes Quartier

Was ich am Niederdorf besonders mag: Es ist ein echtes Quartier. Nicht nur ein schöner Teil der Stadt, sondern ein Ort, wo man sich kennt. Das fühlt sich für mich viel authentischer an als etwa das Zentrum von Brügge, das hauptsächlich vom Tourismus lebt. Ich liebe die kleinen Begegnungen, das Gefühl, Teil von etwas 

zu sein. Und gleichzeitig ist Zürich natürlich auch einfach eine Stadt voller Möglichkeiten. Alles ist nah: der See, die Natur, die Berge. An freien Tagen sitze ich oft einfach am Wasser – das ist etwas, das ich in Belgien ein bisschen vermisse.

Brügge wird für mich immer Heimat bleiben. Es ist die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, wo meine Erinnerungen sind. Aber Zürich ist wirklich mein zweites Zuhause geworden. Besonders das Niederdorf ist für mich der Ort, wo alles angefangen hat. Ich bin nicht nur vorübergehend hier – ich habe wirklich das Gefühl, angekommen zu sein.

Zwei Städte, die auf den ersten Blick vieles gemeinsam haben: alt, charmant, voller Geschichte. Aber im Gefühl ganz unterschiedlich. Und ich bin froh, dass ich von beiden ein Stück in mir tragen darf. 


Névine Joye



Unsere Gastschreiberin

Névine Joye (2006) ist im belgischen Brügge und dann in Gent aufgewachsen. In Gent absolvierte sie das Gymnasium in Fachrichtung Psychologie. Nach dem Abschluss kam sie im August 2024 nach Zürich, wo sie seither in der Altstadt in der «Äss-Bar» an der Stüssihofstatt arbeitet. Sie lernt an der ZHAW intensiv Deutsch und plant an der Universität Zürich zu studieren. Sie wohnt in Meilen, bald in Uster. Sie mag Musik, geht gern an Konzerte.


Foto: EM