Kulinarische und andere Auswüchse

Des Strandläufers Antwort auf Statdwanderers Klage über die kulinarischen Festtagsversuchungen, gewürzt mit einem Hinweis auf eine neue gastronomische Species: den Heizpilz.

Lieber Stadtwanderer

Stünde mir mehr Zeit zur Verfügung, mein Erbarmen mit dir kennte keine Grenzen. Du musst ein grausliches Bild abgeben: durch den Weihnachtswolf gedreht, durchs Silvestersieb gepresst und womöglich noch von den drei Königen mit Füssen getreten. Ich hoffe doch sehr, dass wenigstens deine innere Schönheit diese Torturen schadlos überstanden hat. Der saisonalen Völlerei zu widerstehen ist eine Prüfung, die nicht nur dir auferlegt wurde. Ganze Wälder werden alljährlich abgeholzt und hektoliterweise Tinte vergossen, um vor dieser Todsünde mahnend den Schreibefinger zu erheben. Nützen tut dies natürlich nicht die Bohne, das Volk geht weiter aus dem Leim und immer massigeren Zeiten entgegen, wie du neulich treffend bemerkt hast.
Fressen liegt zurzeit halt schwer im Trend: Horden von Fernsehköchen versuchen auf sämtlichen Kanälen dem Zuschauer die richtige Handhabung von Messer und Pfanne schmackhaft zu machen, die Food-Tempel (wie Lebensmittelläden auf Neudeutsch heissen) quellen über mit Spezereien aller Art und sogar ich werde fast täglich um Rezepte angegangen. Nichts gegen gepflegtes Kochen, Petermann und Co. bewahre, diesen Virus habe ich ja schliesslich schon längere Zeit in mir, aber was da diesbezüglich im Moment abgeht, grenzt an Massenwahn.
Auch Fressbeizen scheinen wie Pilze aus dem Boden zu schiessen, Beizen, in denen allerdings in absehbarer Zeit nicht mehr geraucht werden darf. Ha, und was passiert, wenn der Mensch dem Tabak entsagt, waseliwas? Er frisst! Kompensation nennt der Trivialpsychologe so was. Du siehst, mein praller Stadtwanderer: ein Teufelskreis…
Apropos Pilze, mykologisch nicht ganz unbewandert, war ich bislang der Meinung, die meisten Wintergewächse dieser Art einigermassen zu kennen. Derer sind ja nicht gerade viele, wie ein kurzer Blick ins zuständige Lexikon zeigt. Zu meinem grossen Erstaunen erhebt nun aber seit kurzem eine bisher unbekannte Gattung ihr wüstes Haupt – der Heizpilz! Zu finden im öffentlichen Raum, an schattigen Lagen, etwa entlang des Limmatquais, hinter dem Kunsthaus und an ähnlichen Orten, immer aber in Symbiose lebend mit Gastrobetrieben, vorwiegend der Schmelzkäse produzierenden, bisweilen etwas übel riechenden Sorte. Und wie nicht anders zu erwarten war, entstand sogleich eine saftige Kontroverse über den gebührlichen Umgang mit diesem neuartigen Geschöpf. Soll der Heizpilz nun geduldet werden, ist er schädlich, womöglich sogar ungeniessbar, soll er ausgerottet werden mit Stumpf und Stiel, als Neophyt nicht in unsere Gegend passend?
In Unkenntnis deiner mykologischen Bildung daher meine dringende Frage an den Stadtwanderer: Was ist hier zu tun?

Dein Strandläufer