Leben im Klang

Unser Gastschreiber Mathes Seidl lebt in der Altstadt in einem an Musiker vermieteten Haus und gewährt einen Einblick hinter das vibrierende Gemäuer.

Es herrscht die Auffassung, beim Haus Froschaugasse 20 handle es sich wegen der Musiker, die dort untergebracht sind, um ein Musikerhaus. Diese Ansicht ist freilich sehr äusserlich (exoterisch). Der geistigen Schau offenbart sich nämlich, dass das «Musikerhaus» ein prämateriell-geistiges Klanghaus ist. Die darin lebenden Musiker haben diesen Ort folglich nicht im Sinne frei wählender Individuen gewählt, sondern umgekehrt: sie sind vom Ort wegen ihrer Gleichschwingungsnatur (Prädestination) angezogen und erwählt worden. Die Musiker sind an diesen Ort schicksalsmässig gebunden, es ist ihr quasi natürlicher instinktmässiger Ort (Ort des Einklangs).

Immenser Klangkorpus
Was nun das Klanghaus als solches anbelangt: Sollten Sie einmal Gelegenheit haben, das Haus zu betreten, sich in die Mitte des Entrées zu stellen und den Blick bis zur fünften Etage hinauf schweifen zu lassen, werden Sie sich in einem weitläufig-aufstrebenden Resonanzschacht, der sich als innerstes Klangorgan eines immensen Klangkorpus entpuppt, wiederfinden. Entlang der Wände werden Sie aufsteigende Galerien ausmachen, von denen aus die Musiker ihre individuellen Klangzellen erreichen können. Sollte es nun der Fall sein, dass alle Zellen besetzt sind – das ist meistens in den Abendstunden der Fall – können Sie einem einzigartigen Konzert beiwohnen.
Aus den verschiedenen individuellen Schallquellen (zehn Klangzellen bei fünf Etagen, esoterisch: unvollkommene Quintdezimierung) drängen die verschiedensten Klangausstösse in den zentralen Resonanzraum hinein, versetzen ihn in Schwingung, worauf die ursprünglichen Schallquellen zum Maximum verstärkt werden, bis sich das Ganze zu einer sich unbegrenzt selbst verstärkenden universalen Klangwoge aufschäumt… Nun wurde ausserdem bei den individuellen Klangzellen nicht nur auf jede klangdämpfende Massnahme (materieller Aspekt) verzichtet, vielmehr das Resonanzgesetz (geistiges Prinzip) konsequent befolgt: resonanzfähige (potenziell-geistige) Heizkörper, Aussenwände, luftempfindliche Fenster (aerolog), Fenstergesimse, feinstoffliche, äther- und astralleibliche (ätherolog, astrolog) aber auch elektronische Feinstaub-Trägersubstanzen aller Art (materiell-geistige Übergangs- bzw. Gleitphänomene) fungieren als Geistleiter par excellence…

Vom Umgang mit Klang
Dank der feinstofflichen Vernetzung vergeistigt (transzendiert) sich nicht nur der gesamte Corpus, sondern alles sich darin bewegende Leben zum Klangleben – und zwar selbstverstärkend und dadurch zunehmend. Das gilt vor allem für das Leben der Musiker: Die Musiker sind – auch hier wieder zunehmend – Klangleber, Klangatmer, Klangesser, Klangtrinker, Klangsäufer, Klangwischer, Klangbeter, Klangkotzer und Klangscheisser, ja unter den fortgeschrittensten Umständen Klangverwirrte, Klangwirre… Nadah Bahama – die Froschaugasse 20 ist Klang. Sie ist Zürichs grösster existierender Klangkraftort und Klang-Wurzelort. Solche Wurzel-Orte binden naturgemäss entsprechende materielle Formen (Klöster, Kirchen) beziehungsweise menschliche Repräsentanten an sich, die in ihrer energetischen Leitungsfähigkeit (ähnlich Kupferdraht im Falle der Elektrizität) die Fortsetzung eben der an den Ort gebundenen geistigen Klangkraft hinausleben. Diese Menschen sind, wie gesagt, nicht frei. Sie sind Gebundene. Kraftortmässig. (So können Sie zu vorgerückter Zeit bisweilen spontanes kraftvolles Musizieren vernehmen – Ausdruck des geistigen Wurzel-Anspruchs und der kraftvollen Bindung an das innere häusliche Gesetz, gleichwohl aber auch Ausdruck einer bereits fortgeschrittenen Klangwirrnis.) Klangorte existieren nicht einfach sol-la-la für sich. Sie sind, wie alle Kraftorte – dank um sich strahlender Energie und auch dank der spezifischen Leit- und Streudynamik ihrer Bewohner – aktive Orte.

Das Umfeld
Wie sich im Umfeld von bedeutenden Klöstern und ähnlichen Kraftgaststätten ähnlichschwingende (obertönige) Kraftfelder finden, gilt das erst recht für die Froschaugasse 20: So wurde mehr als einmal vom denkwürdigen Wirken einer spirituösen Mystikerin im Nachbarhaus («Isebähnli») berichtet, wobei es sich nicht um eine dem Klanggeistigen verwandte Hellhörigkeit handelt, sondern um die dekadentere Form der Hellsichtigkeit. Vielleicht darf für die eindrücklichste Manifestation obertöniger Kraftausstrahlung das Haus Nummer 11 stehen. Hier lebte eine als Fräulein Riester (exoterisch) bekannte Frau. Sie war dem Klangmutterhaus Nr. 20 besonders verbunden, versorgte sie doch deren Klangleber gelegentlich mit Klangnahrung (Ochsenmaulsalat und Zopfbrot). Esoterische Vermutungen, es handle sich bei Frl. Riester um eine Wiederverkörperung der Heiligen Hildegard von Bingen, erhielten in jüngster Zeit Auftrieb. Im Nachlass der besagten Frau fanden sich nämlich Studien zu einer «Elementarstruktur der menschlichen Nahrung», die in einer von der Verfasserin als Zwölf-Korn-Ordnung postulierten Grundnahrungsformel gipfelten. Was nun aber den Nachweis dieser Nahrungs-Wurzel-Formel als Abkömmling einer ursprünglicheren (archetypischen) Klang-Wurzel-Formel betrifft, ist ein entscheidender Schritt getan: im Werkverzeichnis des vis-à-vis (Nr. 20) lebenden Klanglebers und -schreibers Martin Wehrli findet sich ein als «Klavierstück II» betiteltes Werk, dessen Grundstruktur eine Zwölf-Ton-Reihe aufweist, die strukturell absolut identisch ist mit der Riesterschen Zwölf-Korn-Reihe… Leider bin ich aus Platzgründen gezwungen, auf weitere brisante Ausführungen zu verzichten, verweise aber auf die zu erwartenden Publikationen (hermetisch), für die der literarische und parfumologische Kraftort «Medieval» an der Spiegelgasse, umsichtig und anrüchig die «Bingenschen Geistes-und-Nasen-Strömungen» in unserem Quartier verbreitend – geistige Heimstatt bietet. Wie auch immer: Es steht fest, dass die Stadt Zürich vor einer der grössten Entdeckungen im Rahmen erweiterter esoterischer Untersuchungen zur städtischen Kraftortgeschichte steht.

Unser Gastschreiber
Mathes Seidl (1944), geboren in Rostock, Mecklenburg, ist in Lindau am Bodensee aufgewachsen. Danach Musikstudium in München, Paris und Hamburg. Er war acht Jahre Bratschist im Zürcher Tonhalle-Orchester, drei Jahre an der Hamburger Staatsoper. Ab 1980 Psychologiestudium in Zürich, Dissertation.
Ausbildung zum Psychotherapeuten am Szondi-Institut, Weiterbildung in Focusing. Seit 1985 tätig als Psychotherapeut in eigener Praxis. Als Musiker heute in einem Streichquartett und in verschiedenen frei improvisierenden Gruppierungen. Seit 1972 wohnt er mit einem Unterbruch in der Zürcher Altstadt, im Musikerhaus an der Froschaugasse 20.