Hommage an die Schildkröte

Unser Gastschreiber Hans-Peter Meier ist in den Sechzigerjahren in die ­Altstadt gekommen und ist bis ­heute im Kreis 1 geblieben.

Ich habe einige Fahrten gebraucht, um in der Altstadt von Zürich anzukommen. Vom Walensee her waren diese in den Sechzigerjahren eine kleine Balkanreise. Bei Mühlehorn sah der See mich als grünlich-blaues Riesenauge jeweils nochmals an, ­bevor ich unter dem Kerenzerberg durch in die Linthebene stiess. Von da an wiesen die Hochspannungsleitungen und die schnurgeraden Ufer der Linth stracks in Richtung Zürich. Hoch thronte dann, wenn ich aus der Halle des HB trat, über der Altstadt die Universität. So wurde ich als ­Wochenaufenthalter jeden Sonntag schon auf der Hinfahrt etwas mehr Stadtmensch. Doch dann, am kommenden Freitag, legte ich auf der Rückfahrt das erhabene Gefühl des Städters wieder ab. Aus dem Loch nach dem Kerenzerberg begrüsste mich jeweils das Seeriesenauge ­wieder und hielt mir nach unten ­gekehrt die Churfirsten als Spiegel hin. Da tauchten jeweils viele meiner Stadteindrücke mit ein.

Von der Revolution angewärmt
Die Altstadt liess mich bald im ­Chaos baden. Hoch über dem Seilergraben, in einer Nacht 1968, sitzen wir zusammen und hören sehr laut Miles Davis. Unter dem Dach bewohnte ich zum Monatspreis von 39.50 eine der acht Mansarden. Wir waren Studenten und kamen aus der «Peripherie». Wir fühlten uns als Kommune, wurden von der damaligen Revolution angewärmt und einige kochten gar in ihr. An diesem Abend wirft uns die Meldung aus der Bahn, Rudi Dutschke in Berlin sei angeschossen worden. Benny, ein heute bekannter Starverteidiger, öffnet das Fenster und wir werfen ­einen Band des gesammelten Werks von Goethe nach dem anderen auf die Strasse. Dieser Büchersturz vom Seilergraben ist mein erstes Erlebnis dessen, was man später soziokulturelle Animation nennen wird. Ein Taxichauffeur hält an, sieht sich um und sammelt den Goethe ein; er schaut etwas verblüfft an unsere ­Revolutionsetage hinauf und scheint sich grüssend zu bedanken.
So begann meine Erziehung vom «aha, das ist ja ein Glarner» zum Stadtmenschen durch die Altstadt. Fortsetzungen folgten. Alles war ja ganz dicht beisammen und zugleich übereinander. Tagsüber stiegen wir ans Licht der Universität oder ETH, um aber dann umso freudiger wieder abzusteigen. Da im Dorf gab es an jeder Ecke Schatten, Rauch und Blütenduft – die «Alte Burg», «Stadt Madrid» und wie sie alle hiessen. Im «Löwenhof» an der Zähringerstrasse gegenüber der «Safari-Bar» war unser Lager. Hier war es auch bei Tag schon angenehm dunkel hinter den Vorhängen, im Rauch und Geruch von Guiness. Hier versammelten sich Eisenleger, Spengler, Kellner, Coiffeure, Künstler, Arbeiter, Taxifahrer und «Marschfrauen». Ein grosser Spiegel verwandelte die Szenen zum Kabinett. Wir besprachen und feierten die Revolution. In der Globus-Krawallnacht war unser Kriegslager gleich um die Ecke auf dem Dach unserer Kommune. Wir tauchten ab ins Gewühl, um wieder hinauf zu flüchten. Im Halbdunkel dieser Altstadtorte kam vieles zusammen, was später nicht mehr ­zusammengehören konnte. Einige Male tauchte Thomas Held auf und bereitete sich auf sein Spätwerk als Direktor von Avenir Suisse vor. Die Altstadt barg Leben in sich. Ich genoss die beste Einführung ins Stadtleben – von Leuten, die fast alle noch hier aufgewachsen waren und da wohnten zusammen mit Fremden aus Italien oder Spanien.

In der Dunkelkammer
In der Dunkelkammer traf man Unbekannte. Ich erinnere mich an einen hageren Mann aus Ungarn. Ich war für eine günstigere Wohnung zum Abwart im «Löwenhof» aufgestiegen und wir heizten mit Kohle das ganze Haus. An einem Samstag brannte es in einem Zimmer unter dem Dach. Der unbekannte Magyare lag im brennenden Bett. Wir konnten noch beide löschen. Nach den Ungaren kamen dann die Tschechen und als diese schon graue Haare hatten die Serben, Bosnier, Kroaten aus dem Balkan. Russisch hörte man ­damals erst im slawischen Seminar oben an der Universität. – Ja, wenn ich heute im Kreis 1 eine Beiz aufmachen könnte, würde ich sie «Dunkelkammer» taufen. Sie lebt heute noch in den Gesichtern, die ich noch kenne, aber deren Namen ich nur noch aus dem Nebel zusammen­reimen kann. Ein Gesicht aber leuchtet mir bis heute rot entgegen, das Porträt von René Kolb und die Züge seiner Colette.
Das Licht der Aufklärung hat mich an einem schönen Sommertag wieder an die ETH gerufen. Die Architekturabteilung hatte ein neues Planspiel erfunden. Noch ohne Computer spielten wir mit Modellen von Hochhäusern, Banken, Fabriken, ­Warenhäusern und U-Bahnen. Als eifrige Stadtentwickler schauten wir hochnäsig auf die Altstadt wie auf ­alte Möbel hinab. Doch da rief mich die Altstadt barsch zurück und ich kippte vom Spiel ins Tierreich:
Die Altstadt rechts der Limmat kroch als Schildkröte vom See langsam zum Hauptbahnhof. Sie legte den Schwanz ins Seefeld, breitete ab dem Odeon den Leib aus und nach dem «Unteren Rheinfelder» reckte sie den Kopf zum Bahnhof. Ihr entgegen aber tastete die Altstadt links der Limmat, die andere Schildkröte. Den Schwanz zog sie aus der Halle des HB, bewegte sich seewärts und hob am Bürkliplatz den Kopf den Alpen zu. Sie kehrte dorthin zurück, von wo aus sie die Planer der Bahnhofstrasse einmal entführen wollten. Dies war ein kleiner Triumph für mich; denn witterte sie nicht die Gletscher- und Wasserwege aus der Gegend, wo ich ausgezogen bin?

Es begann zu glänzen
Die rechte Schildkröte hat mich einmal unter ihrem Panzer versteckt – an der Spitalgasse. Wir waren auf der Flucht aus dem Universitätstempel; ein deutscher Professor wollte mich hinauswerfen und so waren wir halt frühzeitig selbst gegangen, haben dort das Institut «cultur prospectiv» gegründet, und es begann aus der Dunkelheit zu leuchten – sogar bis nach Deutschland.
Ich bin dann nochmals aufgestiegen – in die obere Kirchgasse ins Haus zum Paradies. Es war bereits die Zeit, als die Schildkröte zu glänzen begann. An vielen Stellen der Altstadt fand ich mich in Vitrinen von Boutiquen älter werden. Und die Klaustrophorie («Lust am elektronischen Einschliessen») brach aus: schöne Tore mit automatischen Öffnern und Lautsprechern, durch die zuweilen Stimmen jener wenigen Bewohner knatterten, die selten und zufällig da waren. Und an einem schönen Ostersonntag musste ich gar aus dem Paradies fliehen, weil periodisch eine Sicherheitsanlage durchdrehte.
Aber, was soll Nostalgie! Da bin ich einig mit dem Stadtwanderer. Denn eines Nachts, ich sitze mit Krzysztof Dziedzinski aus Polen beim Wodka, schlüpft eine kleine, elegante Katze durchs Fenster. Sie bleibt und zieht später weiter in die barocke Vorstadt, wo ich bis heute, immer noch im Kreis 1 aber extra muros, wohne. Auf den Dächern des Baumwollhofs stolziert sie über das Dach mit Blick auf Calatravas Fischgratskulptur. Ich taufte sie damals «Czarna», die «Schwarze». Sie hält bis heute meine Erinnerungen ans Dorf in der Weltstadt aufrecht. Ja, dieses hat vieles versucht, aber es nicht geschafft, mich zu einem Urbaniten zu erziehen. Ich dank es ihm.

Hans-Peter Meier

Unser Gastschreiber
Hans-Peter Meier ist 1944 in Quarten geboren. Er studierte Soziologie und schloss mit dem Doktortitel ab. Er gründete das Institut «cultur prospectiv», das Forschung betreibt. Wichtig sind ihm Bilder, die sich Menschen über sich und die Zukunft machen, beschrieben im «Bild der Schweiz» (1980) oder in der «isola elvetica» (2003). Wissenschaft allein genügt ihm nicht und er überschreitet Grenzen. «900 Jahre Zukunft», «Weltflechtwerk», «Territoire imaginaire», «Weltgesellschaft» heissen seine Ausstellungsprojekte. Projekte in Osteuropa und Afrika sind noch im Gang, und er schreibt kurz, aber gerne über Gott und die Welt. Seit 1966 lebt er im Kreis 1, heute am Stadelhofen, mit Partnerin und Tochter.