«Zum hohen Steg»

Man geht an der Unteren Zäune leicht achtlos daran vorbei, am Haus «Zum hohen Steg». Dabei hat es eine lange Geschichte und birgt einige Überraschungen.

Der einseitig bebaute Gassenzug der Unteren Zäune scheint architektonisch wenig Spektakuläres zu bieten. Nicht weniger als sechs im Kern mittelalterliche Häuser wichen zwischen 1951 und 1960 im Zuge der Altstadtsanierung Neubauten, deren etwas eintönige Fassaden seither den Charakter der Gasse prägen. Nur die historisierenden Erker und die alten Häusernamen – «zum Meerfräuli», «zum Sunneblüemli», «zum Grünen Glas» und «zum Wilden Mann» – erinnern an
die alten Wohnhäuser. Vom nüchternen Baustil der Fünfzigerjahre hebt sich überraschend die langgestreckte Front der Nummer 19 ab, und der blauen Plakette der Denkmalpflege ist zu entnehmen, dass das Haus mit dem Namen «Zum Hohen Steg» seit 1977 unter Denkmalschutz gestellt ist. Die knapp zusammengefassten Angaben zur Baugeschichte machen neugierig. Ein Besuch des Hauses unter der kundigen Führung von Cristobal Ortin, dem Pfarrer der Christengemeinschaft, welcher der «Hohe Steg» seit 1939 gehört, wird denn auch zu einem Gang durch die Jahrhunderte und lässt die Geschichte der Besitzer und Bewohner lebendig werden.

500-jährige Geschichte
Die stattliche Grösse des heutigen Gebäudes erklärt sich durch den Umstand, dass im Mittelalter an seiner Stelle drei kleinere Häuser standen. Es war der Apotheker Anton Klauser, der vor 1505 die Liegenschaft mit den drei Häusern kaufte und sie zu einem einzigen Haus umbaute. In diese Zeit fällt auch die Errichtung des spektakulärsten Bauteils des Gebäudes, eines quadratischen, mit einem spätgotischen Sterngewölbe geschmückten, kapellenartigen Saals, den von der Strassenseite aus niemand vermuten würde. Über den ursprünglichen Zweck dieses Raumes ist viel gerätselt worden. Hat Klauser ihn als Gartensaal gebaut, als Verkaufs- oder Ausstellungsraum für seine Waren, etwa für Gewürze aus dem Orient, benützt, oder vielleicht doch als Hauskapelle? Auf alle Fälle hat wohl der sakrale Charakter des Anbaus 1518 den Bischof von Chur veranlasst, das Haus «Zum hohen Steg» den Erben von Anton Klauser abzukaufen, der 1515 in der Schlacht bei Marignano umgekommen war. Lange mochte der Bischof aber seine Zürcher Absteige nicht halten, setzte sich doch wenige Jahre später die Reformation Zwinglis durch. Das Churer Stift verkaufte das Haus schon 1530, und 1533 wurde es vom Ratsherrn Heinrich Rahn übernommen. Als Stammsitz blieb der «Hohe Steg» bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts ununterbrochen in der Hand dieser angesehenen Zürcher Familie, die im Laufe der Zeit viele Zunft- und Bürgermeister stellte. Auf sie und die nachfolgende Besitzerfamilie Waser dürfte die heute noch sichtbare, prächtige Ausstattung der Räume zurückgehen: Fenstersäulen aus dem 17. Jahrhundert und qualitätvolle Stuckdecken des Rokoko.

Besuch von Goethe
1776 wurde das Haus an den Arzt und Apotheker Diethelm Lavater verkauft, der, rund 250 Jahre nach Konrad Klauser, an den Unteren Zäunen erneut eine Apotheke mit Ladenlokal, Kontor und Magazinräumen einrichtete. Lavater war der Bruder des berühmten Johann Caspar, des Pfarrers am St. Peter, und durch diesen mit Goethe bekannt, der sich für seine Naturaliensammlung interessierte und ihn auf seiner dritten Schweizerreise im Oktober 1797 im «Hohen Steg» besuchte.
An die Lavatersche Apotheke, die von drei Generationen an diesem Ort betrieben wurde, erinnert heute nur noch der klassizistische Brunnen im Hinterhof: Ein in die Brunnenwand eingelassenes Marmorrelief zeigt das Emblem des Apothekers, einen von zwei Schlangen umwundenen Kelch. Die Lavater waren es auch, die 1851 mit einem Umbau dem Haus und vor allem seiner gassenseitigen Fassade die heutige Gestalt verpassten. Der Zürcher Architekt Albert Wegmann lieferte die Pläne für die Sanierung der Apotheke im Parterre und die Neugestaltung der Fassade mit dem Sandsteinsockel und der Abfolge der bogengeschmückten Türen und Fenster.
Die «Kapelle» diente, ausgestattet mit einem venezianischen Kristallleuchter und geschmückt mit der umfangreichen Porträtsammlung der Lavaterschen Ahnengalerie, fortan als Gesellschaftsraum bei Familienfesten und grossen Einladungen. Die bis vor kurzem im Familienbesitz verbliebenen Bilder wurden unlängst dem Schweizerischen Landesmuseum geschenkt und bilden nun einen wichtigen Bestandteil der dortigen Dauerausstellung. 1888 wurde die Lavatersche Apotheke liquidiert und kurz darauf das Haus verkauft. Die Kapelle, zwischendurch als Mineralwasserdepot missbraucht, wurde als Versammlungslokal vermietet, unter anderem seit 1914 an die Freimaurerloge «Sapere aude».

Die Christengemeinschaft
Mit dem Erwerb des Hauses durch die Christengemeinschaft im Jahr 1939 kam neues Leben in den «Hohen Steg». Die 1922 mit der Hilfe Rudolf Steiners gegründete Christengemeinschaft versteht sich als selbständige Kirche, die neue Wege zum Verständnis der christlichen Wahrheiten in einer der heutigen Zeit entsprechenden Form aufzeigt.
Im Mittelpunkt des religiösen Lebens steht der Gottesdienst mit starken liturgischen und rituellen Elementen und einem eigenständigen Verständnis der Sakramente. Die Kapelle erwies sich als Gottesdienstraum von Anfang an zu klein, weshalb sie um einen Anbau in anthroposophischem Stil erweitert wurde. Das grosszügige Raumkonzept des Hauses, vom hohen, tonnengewölbten Kellerraum über die Kapelle bis zu verschiedenen Versammlungsräumen und Studierzimmern, erlaubt der Christengemeinschaft, vielfältige religiöse und kulturelle Aktivitäten anzubieten.
Die für die Gemeinde zuständigen Personen und die Bewohner des Hauses sind sich des Privilegs bewusst, an einem speziellen, geschichtsträchtigen Ort in der Zürcher Altstadt zu wirken und zu leben, und der Wunsch des Pfarrers, Cristobal Ortin, ist es, die verborgenen Kostbarkeiten des «Hohen Stegs» dereinst in passender Form einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen zu können.

Matthias Senn