Unterwegs in der Nacht

Martin Rüsch, der neue Pfarrer am Grossmünster, hat für den Altstadt Kurier die diesjährige Weihnachtsgeschichte verfasst. Er erzählt eine Geschichte, die ihm vor einiger Zeit zugetragen wurde. Doch lesen Sie selbst.

Im Oktober dieses Jahres war ich mit der Bahn unterwegs in Deutschland. Irgendwo zwischen Offenburg und Karlsruhe blieb der ICE auf offener Strecke stehen. Ein Innehalten, welches die meisten Reisenden ärgerte, mich aber unbemerkt ins Gespräch brachte mit einem Nachbarn im Zugabteil. Und dieser erzählte mir, als er von mir erfuhr, dass ich in der Altstadt von Zürich leben würde, was ihm einmal vor Jahren, gerade da in Zürich, widerfahren ist. Und das möchte ich hier nacherzählen:

Erste trockene Flocken. Die Kälte nahm zu, schleichend, wie der Mond abnahm. Ein sachte kratzendes Geräusch drang an sein Ohr. Die Hand versuchte zu fassen, wo er war. Kaltes Steinpflaster, der klebrige Fuss eines Metalltisches, ein enger Hof seitwärts der Gasse. Wieder dieses Geräusch, ein leises Zischen. Er und Mara waren allein, wenigstens geborgen von der Dunkelheit. Maras Gesicht bleich, leuchtend vom Widerschein eines Schaufensterlichtes um die Ecke. Wieder dieses trockene Kratzen. Da, daher muss es rühren: Die um sich kreisenden Blätter, von einem Windstoss kurz aufgeschreckt, dann sich atemlos hinlegend. Wie er und Mara: Atemlos hatten sie sich hierher zurückgezogen. Und sind liegen geblieben, erschöpft vor Müdigkeit und Schreck.
Immer noch keine Nachricht, kein SMS auf dem Display, nichts. Hannes, Maras Studienfreund, war nicht zu Hause, liess überhaupt nichts von sich hören, warum auch immer. Auf ihn, Hannes, hatten sie gezählt. Sie kannten sich hier ja überhaupt nicht aus.

Auf sich allein gestellt
Jan musste Mara wecken. Wieder ihr bleiches Gesicht, das ihm klarmachte, dass es ihr nicht gut ging. Irgendeinen Ort müsste es doch geben, eine Herberge, wie damals für Joseph und Maria, dachte Jan. Öfters spät sei dieser Hannes, eigentlich immer
spät, hatte jene Frau Tauber vom zweiten Stock ihnen Hoffnung gemacht, nachts unterwegs eben, weil die Nacht ja wichtiger geworden sei als der Tag heutzutage, und so wisse man nie. Nur, sie würde nicht auftun können. Nein, man wisse ja nie, was einen erwarte. Oder wer einen erwarte, dachte Jan. Auf Hannes konnte man jedenfalls nicht zählen. Dann wurden die Passanten spärlicher, unansprechbarer, in jeder Hinsicht. Kein Lokal mehr, das Licht hatte. Dann die plötzliche Pöbelei, Maras Sturz, ihre Schwäche.
Jan musste Mara aufhelfen, die Kälte hatte sie langsamer und schweigsam werden lassen. Schneeflocken trieben nun wie in Schnüren gereiht hin und her über die Gasse. «Judengasse», las er auf einem Schild. Und später in einem hell und warm leuchtenden Schaufenster «woolness»: Ein Name für Kleider, die kaum der Kälte trotzen müssen, dachte er, aber um des Namens willen getragen werden.

Die falsche Tageszeit
Wo er denn hinwolle, fragte Mara. Das wusste Jan eigentlich selber nicht. Aber er gab zur Antwort, er wisse noch eine Adresse, eine Anlaufstelle sozusagen, da würden sie dann bestimmt gut aufgehoben sein. Mara fügte sich. Sie war zu schwach, um weitere Fragen zu stellen. Über ihnen schwebte eine ganze Reihe von Hoffnungslichtern, eine Weihnachtsbeleuchtung, farbige Glühbirnen, die ihnen den Weg hätten weisen können. Zu welchem Stall auch immer. Ohne dieses Glühleuchten wäre es vollends dunkel gewesen. Selbst die beiden hohen Türme des Münsters, sonst wie Lichtsäulen über den Gassen, liessen sich im Dunkeln nur ahnen. Aber es müsste eine offene Tür geben, dort bei der Kirche oder beim Pfarrhaus, seit Hunderten von Jahren muss das so gewesen sein, ging es Jan durch den Kopf. Oder aber, wenn jetzt einfach ein Engel herbeikäme. So wie es erzählt wird: mitten in der Nacht, um ihnen im Dunkeln den Weg zu weisen. Nein, ohne Engel: wenn einfach ein Mensch käme, der schlicht sähe, geistesgegenwärtig, wie es um sie steht und was zu tun wäre. Aber dafür war es einfach die falsche Tageszeit. Wenn bloss ein einziger Mensch Mensch wäre, dachte Jan. Offen für andere, gewissermassen eine menschliche Herberge, dann hätten sie jetzt nicht ausweglos im Dunkeln suchen müssen. Dann müsste er nicht allein weiter wissen. Allein, weil Mara kein Wort mehr sagte, sich nur noch hinschleppte, sich stumm fügte.

Lichtdurchflutet
Dann ging alles sehr schnell. Ohne sich auszukennen sei er die Gasse hinunter gerannt. Bei einer Haltestelle am Fluss hätte ihm jemand zugehört, sogar geholfen. Mara hätte er liegenlassen müssen, sie sei nicht mehr aufgekommen, ihr sei es schwarz vor Augen geworden. Die Ambulanz sei dann viel schneller gekommen, als man hätte denken können. Die Polizei auch. Oben im Unispital seien sie in lichtdurchfluteten Räumen hin und her geschoben worden. Mara reglos. Dann, in einem taghellen Raum seien gleich mehrere um sie herum gestanden, wie in einer fremden Welt. Ein befreiender Schrei sei es dann gewesen, der alles hätte vergessen lassen. Und sie hätte erstmals die Augen geöffnet. Etwa um fünf Uhr morgens sei es gewesen, als sie, wie man das
so sagt, das Licht der Welt erblickt hätte.

Martin Rüsch