Die Beizen der Altstadt

Unser Gastschreiber lebt in der Altstadt, wo er unter anderem die zentrale Lage und das dörfliche Leben schätzt.

Ich bin in Zürich aufgewachsen, aber nicht in der Altstadt, sondern im Hardquartier in Aussersihl. Meine Eltern waren streng, ich hatte einen älteren Bruder und wir wohnten zwischen zwei Kirchen und schräg gegenüber von einem damals noch dauernd besetzten Polizeiposten. Es war keine völlig unbeschwerte Jugend.
In die Altstadt zog ich zum ersten Mal in den Siebzigerjahren, an die Froschaugasse, als sich kurzfristig die Gelegenheit ergab, die Wohnung einer Kollegin als Nachmieter zu übernehmen. Doch war mir die Altstadt, und insbesondere das «Dorf», schon seit Jahren vertraut. Denn die zweite Hälfte der Sechzigerjahre war eine politisch unruhige Zeit, und die Altstadt war ein Kristallisationspunkt dieser Unruhen, die nicht zuletzt von den Studenten der Universität ausgingen. Als Journalist interessierten mich diese Vorgänge natürlich. Zu jener Zeit war ich Stammgast in der legendären «Malatesta-Bar» am Hirschenplatz, sowie in der «Züri-Bar» ein paar Schritte weiter abwärts im Niederdorf, und in der heute verschwundenen Kneipe «Stadt Madrid», die in späteren Jahren zum gediegenen Speiselokal an der Ecke Brunngasse/ Froschaugasse saniert wurde – damals war dies ein wahres Bermuda-Dreieck von Beizen. Heute wohne ich an der unteren Kirchgasse, unmittelbar neben dem Zentrum Karl der Grosse
und seinem Restaurant. – Meine Arbeit führte mich in den Siebzigerjahren verschiedentlich in den Mittleren Osten, und schliesslich verbrachte ich mehrere Jahre – allerdings mit wochenlangen Unterbrüchen in der Zürcher Heimat – in Saudiarabien. In den Achtzigerjahren kehrte ich endgültig nach Zürich zurück. Schon zuvor hatte ich gemeinsam mit meiner Freundin ein gemütliches Häuschen nahe der Stadtgrenze am See in Wollishofen mieten können. Und im Zuge meiner Arbeit war ich mit den ersten Personalcomputern in Berührung gekommen. Dies führte dazu, dass ich angefragt wurde, bei der Gründung der schweizerischen Ausgabe der Fachzeitschrift Computerworld mitzuarbeiten.

Unprätentiöse Architektur
Damals lernte ich den Charakter der Altstadt bewusst schätzen und lieben. Es war diese einmalige Mischung aus Urbanität und fast dörflicher Nachbarschaft, die ich so schätzte und immer noch schätze. Die Bewohner kennen sich zum grossen Teil persönlich, oft seit Jahrzehnten, und Nachbarn kümmern sich umeinander. Anderseits kann man in der Altstadt auch so abgeschieden und anonym bleiben, wie man will.
Nach meiner Heirat 1988 kam ich in die Altstadt zurück, zunächst ins Oberdorf, an die Weite Gasse hinter dem Theater am Hechtplatz, und später an den Zähringerplatz gegenüber der Zentralbibliothek. Die Altstadt hat insbesondere für freiberuflich tätige Menschen wie mich fast unschätzbare Standortvorteile. Da ist zunächst einmal die zentrale Lage, der einfache Zugang zu zahlreichen verschiedenartigen Geschäften, zu den Hochschulen, zu vielen Amtsstellen und Dienstleistungsbetrieben – und all dies in bequemer Gehdistanz.
Und dann die Altstadtarchitektur: Sie ist sehr unprätentiös, lediglich einige Zunfthäuser deuten an, dass Zürich eine ausgesprochen wohlhabende Stadt ist. Die meisten Altstadthäuser haben ein sehr menschliches Mass,
sie sind in der Regel nur vier oder höchstens fünf Stockwerke hoch und mit Giebeldächern gedeckt. Die Ladengeschäfte in den Erdgeschossen wirken meistens sehr zurückhaltend, wenn auch vielerorts die Turnschuh- und Klamottenläden überhand zu nehmen scheinen. Bezeichnenderweise befinden sich die eher protzig anmutenden Büropaläste der Grossbanken nicht in der Altstadt, sondern säumen den Paradeplatz und die mondäne Bahnhofstrasse.

Glanzlichter
Die architektonischen Glanzlichter der Altstadt sind ihre Kirchen: das ursprünglich romanische Grossmünster mit seinen Doppeltürmen und der Statuenkopie des Kaisers Karl der Grosse, der von seinem Turmsitz aus über die Limmat, das Helmhaus und die bescheiden wirkende, gotische Wasserkirche blickt. (Das verwitterte Original der Statue befindet sich in der Krypta des Grossmünsters.) Ein wirkliches Architekturjuwel, wenn auch viel zu wenig bekannt, ist der öffentlich zugängliche Kreuzgang des einstigen Chorherrenstifts des Münsters, das heute die Theologische Fakultät der Universität Zürich beherbergt. Flussaufwärts am Limmatquai, direkt am Ufer und vor dem Chor der Wasserkirche, steht das Denkmal des Zürcher Reformators Zwingli. Und auf dem anderen Ufer des Flusses ragt neben dem Stadthaus der schlanke Turm des gotischen Fraumünsters – das die bekannten Glasfenster von Marc Chagall beherbergt – in die Höhe. Und schliesslich, etwas weiter flussabwärts, neben dem Hügel des Lindenhofs, steht die St.-Peter-Kirche mit ihrer riesigen Turmuhr, von der ich in der Schule lernen musste, ihre Zifferblätter seien mit 8,6 Meter Durchmesser die grössten Europas.

Draussen sitzen
Etwas, was mir in der Altstadt fast am besten gefällt, sind die Restaurants, die im Sommer auch im Freien Gäste bewirten. Da ist beispielsweise die «Bodega» an der Münstergasse. Ihre Sitzplätze unmittelbar an der Gasse sind meist voll besetzt, denn sie bieten Sicht auf den oftmals wie eine Parade wirkenden Zug der vorüber flanierenden Passanten. Die «Bodega» ist meiner Erfahrung nach darüber hinaus das einzige Lokal der Stadt, in dem auch einander völlig unbekannte Menschen spontan miteinander ins Gespräch kommen – ein für den zurückhaltend-trockenen Charakter der Zürcher fast unerhörtes Verhalten.
Eine andere Strassenwirtschaftslokalität, die ich hoch schätze, befindet sich am Anfang des Neumarkts, vor der «Destithek» genannten Bar des Restaurants «Neumarkt». Sie liegt an einer der pittoreskesten Ecken der Altstadt, einem namenlosen Platz mit einem öffentlichen Brunnen. Nach links ziehen sich die dezent farbigen Häuser des Neumarkts hin, nach rechts folgt dann der Rindermarkt, und hinter dem Brunnen, vor dem Haus zum Rech mit dem Baugeschichtlichen Archiv der Stadt, führt die Spiegelgasse zum Leuenplätzli und zum Napfplatz hoch. Es gibt kaum etwas Angenehmeres, als am Feierabend hier bei einem Glas Wein zu sitzen und die Dämmerung mit Freunden und Bekannten zu verplaudern.

Gregor Henger

Unser Gastschreiber
Gregor Henger (1935) ist in Zürich aufgewachsen. Lehre als Elektromechaniker bei den SBB. Journalistische Tätigkeit als Redaktor und als freier Journalist für diverse Zeitungen und Zeitschriften, vor allem Weltwoche und Neue Zürcher Zeitung. Die Zeitschrift Computerworld in der Schweiz mit aufgebaut. Hat dazwischen anfangs der Siebzigerjahre drei Jahre als Projektleiter für ein Architekturbüro und danach acht Jahre in Saudi-Arabien gearbeitet. Seither Tätigkeit als freier Journalist mit Schwerpunkt Informatik.
Er hat eine Tochter und lebte bereits früher einmal sieben Jahre in der Altstadt, wo er seit 1989 wieder wohnt.