Teurer, braver, ruhiger

Unser Gastschreiber Peter Preissle äussert sich pointiert zur Frage, wie die Altstadt sich verändert hat und wie sie sich wohl weiter entwickeln könnte.

Die gute Nachricht zuerst: Es gibt viele freie Wohnungen in der Altstadt, man konsultiere mal im Internet die einschlägigen Websites. Um die vierzig Wohnungen sind immer auf dem Markt. Die Sache hat allerdings einen Haken: Die leeren Wohnungen sind nicht ganz billig. Doch das sollte bei einer bevorzugten Wohnlage wie dem Kreis 1 doch kein Problem sein.
Wenn man sich durch die Bilder bei den Objekten im Kreis 1 klickt, fällt einem vor allem auf, dass immer die Küche und die Nasszone/Toilette gezeigt werden, auch populär der Parkettboden, dann noch die Dachterrasse, sofern vorhanden. Die Vorhänge sind meistens zugezogen. Hat es schon ein bisschen Klick gemacht? Also als langjähriger Altstadtbewohner kann ich allen getrost verraten: Wenn man aus dem Fenster schaut, ist die Chance sehr gross, jemand anderem ins Fenster zu schauen, in der Altstadt hat ja verdichtetes Bauen eine jahrhundertealte Tradition. – Zum Glück wurde ja mal eine Zeitlang in der Altstadt ausgelichtet, das heisst die Innenhöfe von den unnützen verwanzten Gebäuden befreit. Eine Entslummungsaktion, beste Beispiele das Leuenplätzli anfangs Dreissigerjahre, der Rosenhof Ende Fünfzigerjahre, der Hof hinter dem «Blutigen Daumen» und der «Santa Lucia». Die restlichen Auslichtungen lassen sich auch heute noch entdecken. Schaut euch doch mal genau um, was war doch noch im Nägelihof? Ein Eisenlager der Firma Schoch. Dank den Auslichtungen sind die Wohnungen, die die Aktion überlebt haben, doch auch attraktiver geworden, ja es hat sich gelohnt, diese Liegenschaften zu renovieren, jedenfalls so gut es ging. – Wer älter wird und in einer der privilegierten oberen Etagen wohnt, hat ja auch nicht nur gute Karten. So viele Fahrstühle wurden ja auch nicht bewilligt, ausser bei einer totalen Auskernung, was die Altstadtwohnungen nicht unbedingt charmanter machte, aber wenigstens zeitgenössischer.
Was geschieht mit solchen Altstadtwohnungen? Da gibt es zwei ganz tolle Alternativen, die eine heisst Businessappartment, die andere Hotelzimmer, Wohnungen und Zimmer für Leute, die nicht fest in der Altstadt wohnen wollen. – Aber es gibt ja die Ausnahmezonen für Altstadtbewohner. Das sind ganz klar bezeichnete Teile wie die Schipfe und Wühre, das Oberdorf, von dort über Obere Zäune oder Untere Zäune ins Predigerviertel mit Neumarkt, Froschaugasse, Predigergasse, zum Teil Brunngasse etc. Da gibt es ja auch noch viele Liegenschaften im Besitze der Stadt, die nur langsam, aber stetig auch teurer werden.
Sozialwohnungen haben im Gegensatz zu den Fünfziger- bis Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts hier nichts mehr zu suchen.

Beizen verschwunden, Sex weg
Der Kampf gegen die Drogen wurde ja gewonnen, die sind jetzt einfach in anderen Quartieren. Der Kampf gegen die Beizen ist auch auf bestem Weg: «Fantasio» weg, «Alt Züri» weg, «Castel»/«Teen und Twen» domestiziert zum Dada-Haus, «Casa Bar» schicke Konditorei. «Tiefer Keller», «Pigalle Bar», «Zic Zac» werden in den nächsten Monaten verschwinden zugunsten Businessappartments (sorry: Zweizimmerwohnungen) und Hotel. «Malatesta» und «Adler Bar» sind ja schon Geschichte wie auch die «Schöchli Schmitte». Ich weiss, es gibt noch viel mehr. Das waren nicht einfach Lokale, das waren zum Teil die guten Stuben der Altstadtbewohner. Als Altstadtbewohner brauchtest du keinen Führerschein, auch keinen ÖV. Die Künstler wie Varlin, Herbst, Steffen, Giger, Zeier usw. hatten nicht nur Ateliers in der Altstadt, sondern auch Läden wie den Racher. Da kam mancher Künstler von weit her, um Material einzukaufen und traf in der «Mala», im «Tiefen Keller» die einheimischen Künstler, und so war der Austausch garantiert. Brauchen wir alles nicht mehr.
Es gab als Freinächte ein paar Tage Fasnacht oder das Sechseläuten. Heute haben wir das ganze Jahr Freinacht, nur ist nichts mehr los.
Das Sexgewerbe hat sich auch immer mehr verabschiedet, kein «Red House», keine Mädchen mehr an der Schoffelgasse und an der Marktgasse. Kein Kino Etoile, kein Stüssihof mehr, der «Salmen» als Stripladen (heute «Spaghetti Factory»): undenkbar. «Schöchli Gogo», «Tambour Bar» mit Gogogirls im Hotel Basilea, «Locanda Bar» mit Gogo im Hotel Zürcherhof, Poulet im Chörbli und Schnäggepfännli nach Mitternacht in der alten «Haifischbar» mit Cabaret. Das «Marion» muss jetzt auch noch weg, leider kein deftiges Frühstück mehr am Wochenende ab 5 Uhr früh. Alles Vergangenheit.

Friedhofsstille
So muss es einfach sein, es gibt Dinge, die wir nicht zurückholen können, die Zeiten ändern sich, ob zum Guten oder Schlechten. Für die einen gut, für die anderen schlecht. Die Altstadt muss man sich leisten können, jawohl, und wer sich das Leben in der Altstadt leisten kann und sich durch den Restlärm noch gestört fühlt, soll doch gleich aus der Altstadt aufs Land ziehen, der Ur-Dörfler wohnt schon lange in Urdorf.
Ich bin in letzter Zeit öfters so um 23 Uhr von irgendeiner Veranstaltung nach Hause gelaufen über den Rennweg, Gemüsebrücke, Marktgasse, Rindermarkt, Neumarkt. Pardon, aber den Vergleich mit dem Friedhof Sihlfeld in Sachen Ruhe muss diese Route nicht mehr fürchten. Das «Kindli» am Rennweg ist mehr oder weniger zu, der «Blutige Daumen» aufgestuhlt, aus der «Oepfelchammer» kein Gesang, «Bauernschänke» aufgestuhlt, «Kantorei» am Lichterlöschen, die Letzten in der Zuflucht der «Destithek». – Wo sind denn all die Nichtraucher, die jetzt endlich ungestört zechen können, ohne durch die Raucher gestört zu werden? Der Nichtraucher kommt schnell zum Essen, trinkt eher weniger und verlässt das Lokal eher früher. Wir haben so abgestimmt, bitte keine Trauer, wenn weitere Etablissements zugehen. In ein paar Jahren werden wir wohl Unterschriften sammeln und verlangen, diese verfluchten Kopfsteinpflaster durch einen Teerbelag zu ersetzen. Der Lärm dieser Rollkoffer der Hotelgäste und Businessappartments-Besetzer ist doch einfach zu widerlich, nicht wahr? – Nach den Drogen, dem Sexgewerbe, dem Lärm: Was ist das nächste? Es mehren sich ja schon die Anzeichen für ein neues Phänomen, die Geruchsbelästigung: Kleiderladen gegen Fondue vor dem Zunfthaus, Dorfbewohner gegen die Seifen des «Lush».

Intoleranz
Der Intoleranz gehört die Zukunft, schafft das Dörflifest endlich ab, auch das Fest am Neumarkt, Zürifäscht bitte nur noch im unteren Seebecken mit Eintritt wie in den Sechzigerjahren. Silvesterfeuerwerk? Nein danke, lieber ein Neujahrsfeuerwerk am 1. Januar, dann könnte man schon um 22 Uhr anfangen und um 23 Uhr ist Schluss.
Das wäre doch ein super Angebot von Zürich Tourismus: Silvester feiern mit feinem Essen in den Restaurants mit Hotel am 31. Dezember, natürlich indoor, am 1. Januar ausschlafen und brunchen bis 16 Uhr, am Abend das Neujahrsfeuerwerk geniessen. Am 2. Januar, dem Berchtoldstag, haben die Läden jetzt neuerdings leider auch offen – ab zum Shoppen! Erleben Sie den Jahreswechsel in Zürich vom Feinsten! Viel Vergnügen mit Essen, Feuerwerk, Beischlafen und Shoppen!

Peter Preissle


Unser Gastschreiber
Peter Preissle (1956) ist in Zürich-Enge aufgewachsen. Er absolvierte eine KV-Lehre bei einem Treuhandbüro. Anfangs 1979 Anstellung bei Edi Stöckli, Unternehmer in der Kino- und Filmbranche, für den er bis heute in verschiedenen Funktionen arbeitet (Finanzen, Filmproduktionen, Kinoprogrammation, Projekte). Von 1980 bis 1996 hatte er das Büro am Stüssihof, seither im Kreis 4.
1981 zog er in die Altstadt, an den Stüssihof, seit 2000 bewohnt er mit seiner Frau und den drei Töchtern ein eigenes Haus an der Predigergasse.
Der leidenschaftliche Kunstsammler und Musikliebhaber spielt seit 25 Jahren bei der Feuerwehrmusik Altstadt mit und ist seit 24 Jahren im Vorstand der Geschäftsvereinigung Limmatquai/Dörfli.