Hin und weg

Der Gastschreiber dieser Nummer bewegt sich beruflich und privat immer wieder in verschiedenen Welten. Von dort bringt er seine ­Erlebnisse mit, die er an seinen, mitunter wechselnden, Lieblingsplätzen in der Altstadt zu kurzen Geschichten verarbeitet.

Eigentlich zeichnen sich Lieblingsplätze ja auch dadurch aus, dass ihnen eine gewisse Kontinuität eigen ist. Die also eine Art Stabilität bieten, die man manchmal in seinem eigenen Leben etwas vermisst. Insbesondere heutzutage, da doch so vieles einem raschen Wandel unterzogen ist. Lieblingsplätze bedürfen Zeit und Raum, um sich zu entwickeln. Sie werden bestimmt durch Lage, Umfeld und zu einem guten Teil aber auch durch die Menschen, die an diesen Plätzen anzutreffen sind. Sie brauchen Zeit, um zu wachsen und zu werden, in einer Welt der permanenten Veränderung.

Ausgangspunkt
Einer der wenigen Orte, an dem dies meiner Erfahrung nach noch möglich ist, ist die Zürcher Altstadt, zumindest rechts der Limmat. Mir fällt dies besonders auf, da ich heute, nach einem Unterbruch von fast zwanzig Jahren, wieder in der Altstadt wohne. Sicher, einiges hat sich verändert, vieles aber ist immer noch vorhanden und wie vor zwanzig Jahren. Plätze, Häuser, Geschäfte, Orte und auch Menschen.
Die Geschichte beginnt, wie alle Geschichten, schon um einiges früher. Ich bin als Auslandschweizer in Deutschland geboren worden. Das Land meiner Väter lernte ich zum ­ersten Mal im Alter von zwölf Jahren kennen. Mein Vater fand, dass es nun an der Zeit sei, packte die Familie ins Auto, damals ein alter VW Käfer, noch mit Bretzel-Rückscheibe, und fuhr mit uns zehn Tage kreuz und quer durch die Schweiz. Ein Land, das mir damals gar nicht so viel anders erschien als das, in dem ich gerade aufwuchs. Auch bei uns hatte es Berge, Seen, blauen Himmel mit weissen Wolken und Kühe. Nur die Sprache, die war ungewohnt. Und in manchen Teilen des Landes überhaupt nicht zu verstehen. Ehrlich gesagt, fand ich es, als Zwölfjähriger, ein bisschen öde. Bis zum achten Tag der Reise. Wir besuchten Zürich. Irgendwann stand ich dann auch beim Bürkliplatz am See und wusste damals sofort: «Hier wer­de ich einmal leben.» – Es brauchte dann zwar noch einmal knapp zwanzig Jahre und etliche Zwischenstationen, bis es wirklich so weit war.

Das erste Mal
Mein Weg führte mich durch einige Metiers und mehrere Länder und Kantone zu meiner ersten Wohnung an der Metzgergasse. Dort wohnte ich im Haus des heute noch vorhandenen «Bluetige Dume». Die Fenster meiner Wohnung im zweiten Stock gingen auf die Marktgasse und den Platz vor dem Hotel Rothaus, seinerzeit noch ein Striplokal («Redhouse»). Einer meiner ersten Lieblingsplätze war im «Rheinfelder Bierhaus» (eben, dem «Bluetige Dume») der kleine Tisch unter dem Spiegel, gleich beim Buffet. Dort wurde ich von «Mama Schorta» umsorgt und bemuttert wie ein eigener Sohn. Schortas gibt es hier leider nicht mehr.

Ausgewandert nach Spanien.
Gewohnt habe ich also an der Metzgergasse, gearbeitet aber in der Filiale der CS, damals noch Kredit-Anstalt, an der Marktgasse. Dort, wo sich heute die Umkleidekabinen des Kleiderladens befinden, befand sich damals mein Arbeitsplatz. Besser gesagt, einer meiner Arbeitsplätze. Denn schon damals hatte ich mehr als einen Job. Was ich übrigens bis heute beibehalten habe. Verschiedene Welten, Sie verstehen? Während ich also tagsüber «Kunden» bediente, waren es abends «Gäste». Im «Le Philosophe», «Mère Catherine» und im «Bahnhof Stadelhofen». Die ersten beiden gibt es noch, Letzteres musste gerade einem Schokoladengeschäft weichen.
Zu meinen Lieblingsplätzen damals gehörten auch das «Pigalle», dessen Mosaik mir erst kürzlich am Stüssihof begegnete, «Kontiki», «Züri Bar», «Safari», «Odeon» und «Limmat Bar». Meinen Kaffee nahm ich oft im «Gran Café», wo ich mich mit Gaddafi anfreundete, dem Hund von Dora Koster. Baden ging man damals wie heute irgendwo an einem Steg zwischen Bellevue und Zürihorn. Kleider besorgte ich im VMC, meine Reisebücher bei Gisela Treichler. Meine Hemden wusch, wenn nicht Mama Schorta, dann die Reinigung Lässer. Zum Coiffeur ging ich da, wo man heute Blumen bekommt. Meine Lebensmittel besorgte ich meistens bei Helen Faigle. Die «Bodega» sah mich fast täglich, das Café Schober meistens nur an hohen Feiertagen. In den ­Lokalen und Bars durfte man noch rauchen und um Mitternacht war Schluss. Ausser man kannte eine der «Illegalen», oder jemanden, der im Niederdorf wohnte. Und meine Eltern? Die immer noch in ihrem kleinen Nest in Süddeutschland wohnen? Die sah ich nur ein- oder zweimal bei mir an der Metzgergasse. Zu sündig war meiner Mutter das Leben in den Gassen.

Das zweite Mal
Was mich damals bewog, meine Wohnung im Niederdorf zu verlassen und nach Witikon zu ziehen? Wer weiss das schon. Mir zumindest ist es nicht mehr so ganz klar. Die Umstände führten jedenfalls dazu, dass ich nun, nach knapp zwanzig Jahren, wieder im Niederdorf wohne. Mittlerweile schon fast zwei Jahre lang. Gar nicht so weit von meiner ursprünglichen Wohnung. Kleiner zwar, heute dafür nun aber ganz oben. Was zu meiner Dachterrasse führt. Und wiederum zu Stripperinnen. Die arbeiten für den Club im gleichen Haus und wohnen auch hier. Was für mich aber viel eindrücklicher war und ist: Vom ersten Tag an fühlte es sich an, als wären diese zwanzig Jahre dazwischen nicht gewesen. Viele der oben erwähnten Orte gibt es noch. Einige nicht mehr oder sie wurden durch andere ersetzt. Gut, nicht nur die Zeiten waren andere, auch ich habe mich etwas verändert. Zumindest die Interessen. Mit gut dreissig Jahren ist man halt anders unterwegs als heute mit dreiundfünfzig. Was aber bleibt, ist das Bedürfnis nach Lieblingsplätzen. Wenn auch etwas ruhigeren. Aber davon hat es ja genug, in unserer schönen Altstadt.

Alexander Villiger

Unser Gastschreiber
Alexander Villiger (1962) ist in Bayern und Graubünden aufgewachsen. Lehre als Bäcker/Konditor und Koch. Nach seiner Militärzeit in Graubünden und der Westschweiz zog er nach Zürich. Zuerst noch im Gastgewerbe tätig, wechselte er 1987 in die Welt der Finanzen, um sich 2001 der Informatik zuzuwenden. Seit 2014 ist er als Key Account Manager im Bereich Government & Education tätig. Von 1993 bis 1996 wohnte er zum ­ersten Mal im Niederdorf, seit 2014 zum zweiten Mal. Er ist Vater dreier Söhne (11, 17 und 19) und schreibt hobbymässig Geschichten unter dem Pseudonym «Der Nachtwanderer». Diese finden sich unter www.dernachtwanderer.blogspot.com.