Der Charmeur

Hier wird erzählt, warum Ottilie tief in ihrem Herzen urplötzlich einen Hauch sozialistischer Erregtheit verspürte.

Eigentlich war Ottilie gewillt, wie jedes Jahr am Neujahrsapéro im Altstadthaus teilzunehmen. Doch zuvor kehrte sie noch im «Karli» ein. Kaum hatte sie im dicht belegten Restaurant Platz genommen, da fragte ein freundlicher Herr in formvollendeter Art, ob am Tisch noch ein Platz frei wäre. Und Ottilie, eingenommen von so viel charmanter Höflichkeit, bejahte umgehend. Der Herr entpuppte sich als äusserst beredter und bekannter Zeitgenosse, es war nämlich Gregor Gysi, Bundestagsabgeordneter und bis 2015 Fraktionsvorsitzender der Linken und aufgrund der regierenden Grossen Koalition somit auch Oppositionsführer unseres nördlichen Nachbarn. Der Tischrunde war bald klar, dass hier einer der begabtesten Redner deutscher Landen unter ihnen weilte und er überraschte durch Schlagfertigkeit, Charme und Anekdotenreichtum. Zum Beispiel erfuhr eine immer entzücktere Ottilie, dass der spätere Anwalt als Jugendlicher neben dem Abitur in der damaligen DDR gleichzeitig den Lehrabschluss zum Facharbeiter für Rinderzucht im VEG Blankenfelde bewältigte. Und dass – womit Gysi gleich seine Sympathie für die Schweiz untermalte – Rinderzüchter in Deutschlands Norden auch «Schweizer» genannt würden. Doch was um Himmels Willen machte Gysi im «Karli»? – Er sollte gleich anschliessend vom Balkon die Reihe «Winterreden» eröffnen, und natürlich liess Ottilie den Neujahrsapéro sausen und natürlich lauschte sie der Rede ihres Tischnachbarn von eben gebannt, war bewegt vom klar gemalten, scharfen und witzigen Gemälde zur aktuellen Lage Europas. Und siehe da, die mondäne Dame von Welt entdeckte in ihrem Herzen einen Hauch sozialistischer Erregtheit, applaudierte dem wortgewaltigen Tribun ­begeistert und spürte rein gar nichts mehr von der bitteren Kälte dieses Winterabends.