Der Wiedergänger

Unser Gastschreiber Köbi Gantenbein hat einige Orte aufgesucht, die für ihn eine Bedeutung hatten. Sie liegen in der Zürcher Altstadt, wo er einst auch gewohnt hat.

Silvia, die jüngste Tochter der Familie Muggli in Samedan war mein Kindergartenschatz. Die RhB hatte aber mit meinem Vater, dem Lokomotivführer Hitsch, etwas vor. Sie versetzte ihn nach Landquart. So topfte man mich um in den Norden des Kantons Graubünden und nahm mir Silvali weg. Um den Schmerz erträglich zu machen, durfte ich in den Ferien zu ihr ins Engadin fahren. Am Neujahrabend gab es immer dasselbe Programm: Belegte Brötlein und Rimuss-Champagner, dazu schaute ich mit den fünf Mugglis nach Zürich: «Die Kleine Niederdorfoper» kam im Fernsehen. Ich war noch nie im Unterland gewesen und so haben die Silvesterabende mein Zürichbild geprägt bis heute.

Reise ins Unterland
Ich brannte darauf, all die Gassen und Häuser von nahem und lebhaftig zu sehen. Und vielleicht gar Ines Torelli zu treffen, denn sie war mein Schwarm, nachdem Silvali und ich uns auseinander gelebt hatten. Von unserer Familie lebte Verena, die Schwester meiner Mutter in Zürich, wo sie als Sekretärin arbeitete. Sie war eine elegante Frau, sie trug immer sehr schöne Kleider, die meine Mutter dann austragen durfte, wenn sie für Zürich nicht mehr genügten. So fuhr ich nun nicht mehr ins Engadin, sondern ins Unterland – endlich. Mir gefiel es in der Ferienwoche bei Verena, die auch meine Gotta war. Ich ging in den Zoo, fuhr mit den Trams von einer Endstation zur anderen und besuchte das Kino in der Halle des Hauptbahnhofs. Vor allem aber wollte ich wissen, wo Heiri das Geld aus dem Kalbverkauf verprasst hatte. Und wo allenfalls Ines Torelli zu finden wäre. Ich rechnete mir Chancen aus, weil Inigo Gallo ja hinter Baumanns Töchterlein her war. Nach längerem Suchen entschied ich mich für das schlanke hohe Haus mit dem «Hotel Schäfli» drin. Auf dessen anderer Seite war ein Trödlerladen so wie dem Baumann seiner, vor «dem Schäfli» ein Platz wie im Fernseher. Ich trat ein – aber drinnen war es ganz anders als «Jubel, Trubel, Heiterkeit» und als ich frug, wann denn all die Menschen kämen, die ich vom Fernseher her kannte, fand ich keinen Trost. Ich war wohl zehn, elf Jahre alt.
Neulich war ich für diese Zeilen wieder einmal im «Schäfli», schaute mich um, dachte an meine Kindheit, an die fünf Mugglis, an Rimuss und belegte Brötlein und an Gotta Vreneli. Ich schaute schon noch etwas herum, ob nicht doch noch Ines Torelli zur Türe herein käme. Wieder draussen, hatte ich grosse Freue an den vielen roten Blumen in den Kistchen vor den Fenstern.

Späte Rückkehr
Nach der Exkursion zu Gotta Vrenali blieb ich viele Jahre fort von Zürich. Ich reiste nach Italien als Mittelschüler, dazu brauchte ich Zürich nicht, wir fuhren von Chur mit dem Postauto zum Schnellzug nach Bellinzona; und nach Griechenland ging es via Buchs – Villach-St. Veit – Belgrad – Skopje. Und nach Berlin via St. Margrethen und München. Zürich war für mich bedeutungslos. Nachdem ich zwei Jahre als Redaktor der Bündner Zeitung gearbeitet hatte, meinte mein Chefredaktor Lebrument, ich müsse nun ins Unterland, um zu studieren. Ich wollte nicht fort von zu Hause, aber es war der wohl beste Rat, dem ich dennoch folgte. Nach Zürich ging ich, weil das von Graubünden nicht zu weit weg war und weil ich dort eine Stelle als Reporter beim Radio erhielt. Und – ich landete wieder im Niederdorf. Nun nicht mehr als Fernsehkind, nicht mehr als Tourist, sondern als Bewohner. Ich lebte einen grossen Teil meiner Studentenzeit an der Gräbligasse. Und kannte also alle Häuser und Lokale im Umkreis von hundert Metern gut.

Konservierte Erscheinungsbilder
Die Arbeit an diesem Text war ein berührendes Heimkommen. Natürlich wird da auch vieles in den Häusern drin herausgeputzt, -geworfen und -gekehrt sein. Wir bezahlten seinerzeit 250 Franken Miete im Monat. Das wird es kaum mehr geben. Ich staune aber, wie viel nach über dreissig Jahren noch da ist an der Zähringerstrasse, an deren Ecke zur Gräbligasse ich im obersten Stock wohnte und oft auf der Dachzinne schlief im Sommer. An grossen Strukturen wie den Baukörpern, aber auch an Details wie Treppengeländern, Schriftzügen, Schaufensterdesign erinnere ich mich an etliches. Es ist eindrücklich, wie die Denkmalpflege, die sich offenbar bis in die innersten Regungen der hier Lebenden eingeweidet hat, Erscheinungsbilder konservieren kann. Die Zinngiesserei tat schon zu meiner Zeit so, als gäbe es keine Zeit – sie tut es immer noch. Die Pestalozzi-Bibliothek hat immerhin eine neue Typografie auf der Mauer. «Einfach gut schlafen» tat man aber vor vielen Jahren schon im Möbelgeschäft gegenüber, das Martha-Haus und der Betsaal einer christlichen Gemeinschaft sind immer noch wie eh. Und der «Lederruffner» raucht immer noch Tabakpfeife – wohl als einziger Mensch von Zürich. Es scheint, dass nur ich älter geworden bin.
Seltsam berührt mich, wie schön abgegriffen das Mobiliar in der «Safari Bar» ist, wo ich hunderte Stunden lebte und dann von einem Tag auf den andern seit so vielen Jahren keine einzige mehr gesessen bin. Ich bestelle mein Bier, versuche mich an den Duft des Raumes zu erinnern. Da man heute ja nicht mehr raucht in der Bar, wird er markant anders gewesen sein. Auch die Leute sind kaum mehr da, die alte Schöne der Nacht etwa mit den gewellten roten Haaren wird heute steinalt sein – möge sie nach ihrer Zeit hier einen guten Ort gefunden haben. Und ich schüttle den Kopf über mich, dass ich für so lange Zeit nie mehr an diesem Ort war, wo ich früher Stunden um Stunden die Welt verbessern half. Nahe bin ich ja oft, denn das «Kino Alba» besuche ich gerne. Nach dem nächsten Film gibt es hier ein Bier.

Köbi Gantenbein


Unser Gastschreiber
Köbi Gantenbein (1956) ist in Malans aufgewachsen. Bereits während der Schulzeit und bis heute tätig für die Bündner Zeitung. Während dem Soziologiestudium an der Uni Zürich wohnte er vier Jahre im Niederdorf.
Er war wissenschaftlicher Assistent beim Schweizerischen Nationalfonds, Reporter bei Radio DRS und danach Lehrer an der Schule für Gestaltung. 1988 gründete er mit Benedikt Loderer die Zeitschrift Hochparterre, deren Chefredaktor er seit 1994 ist. 2013 erhielt er den Zürcher Journalistenpreis für sein Leben und Werk. Mitbegründer des Dada-Hauses. Präsident der Kulturkommission des Kantons Graubünden. – Seit 13 Jahren ist er in Fläsch daheim. Schon 36 Jahre lebt er mit seiner Frau Luci. Und noch ein Jahr länger ist er Klarinettist bei der Dorfmusik Zürich, heute «Bandella delle Millelire».