Dichte und Nähe

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Der Gastschreiber Andreas Keller lebt in der Altstadt und wendet sich in seinen Betrachtungen der Frage von Verdichtung und möglichen Stadtentwicklungen zu.

Die Innenstadt als Wohnform faszinierte mich schon früh. In meiner ­Idealvorstellung bot sie die ideale Mischung aus maximaler Öffentlichkeit bei gleichzeitiger Rückzugsmöglichkeit. Wenn ich als Jugendlicher hätte wählen können, hätte ich mir wohl ein Zimmer genommen direkt über einer der vielen Bars, in denen wir uns schon als Schüler getroffen hatten und deren jüngste Stammkunden wir waren.

Ich bin mir nicht sicher, womit diese starke Anziehung zusammenhängt. Ich wuchs in einem Vorort auf, in ­einer Mehrfamilienhaussiedlung. Ich war ein Einzelkind, aber es gab dort viele Kinder in meinem Alter und so fand das soziale Leben für mich schon immer direkt vor der Tür statt: in den Wohnungen der Nachbarskinder, auf dem Garagenplatz oder dem nahe ­gelegenen Schulhausplatz. Je näher ­alles beieinander war, desto besser, desto mehr ging ab. Das ist eine Erfahrung, die mich heute noch prägt: Dass Nähe und Dichte – the more, the merrier – Leben bedeutet. Für mich jedenfalls war der Weg nach draussen unter die Leute immer der direkte Ausweg aus Langeweile und Einsamkeit. Mit der Gewohnheit des Lebens im Stadt­raum stellt sich noch eine weitere Erfahrung ein: Der städtische Raum, mit seinen Plätzen, Cafés, Restaurants und Bars fühlt sich an guten Tagen an wie die Erweiterung der eigenen Wohnung. Man bewegt sich darin wie zwischen Küche und Esszimmer und trifft dabei manchmal einfach noch auf ein paar weitere Mitbewohner.

Altstadtsanierung, Gentrifizierung
Die Wohnlage im Stadtzentrum ist beliebt, ich bin bei weitem nicht der Einzige, der diesen Mix schätzt, und entsprechend hoch sind Siedlungsdruck und Mieten. Das war aber nicht immer so, im Gegenteil. Es sind noch keine hundert Jahre her seit Karl Moser die Altstadt radikal abreissen wollte, um an ihrer statt seine Visionen eines «Gross-Zürich» zu verwirklichen.

Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass die engen Gassen mit ihren teils prekären hygienischen Verhältnissen als Problemquartier galten und der Vision von Licht, Luft und Raum entgegenstanden. Die «insalubren» Zustände im Stadtkern riefen eine Hygienebewegung auf den Plan, die mit grossem Eifer die Bevölkerung zu Sauberkeit und Ordnung erziehen wollte. Nicht zuletzt verdanken wir dieser Bewegung heute auch einige der schönsten Badeanstalten an Fluss und See. In diesem Zusammenhang stehen auch die zahlreichen Sanierungsschritte, welche nach dem Krieg in Angriff genommen wurden. Diese griffen glücklicherweise nicht an­nähernd so tief in die Struktur ein, wie von Moser gefordert. Einzelne, allzu dichte Ecken und Gassen wurden aufgebrochen und so wurden ­einige sehr schöne Plätze geschaffen, wie beispielsweise das Leuenplätzli oder der Rosenhof, alles Orte, deren Qualität wir heute sehr geniessen.

In einer Art Gentrifizierung avant la lèttre kam dabei Schritt für Schritt das reizvolle Quartier zustande, das wir heute haben. Das hat viel damit zu tun, wie mit dem Bestand umgegangen wurde: mit einem verantwortungsvollen Handeln aller beteiligten Akteure, Behörden, Hausbesitzer, ­Architekten und Denkmalpflege.

Altstadtflair als Exportschlager?
Der Stadtkern weist heute also eine hohe Lebensqualität auf und fast alle wollen dort wohnen, der Platz ist aber beschränkt. Liesse sich denn das Erfolgsmodell des mittelalterlichen Siedlungskerns nicht auch in die Aussenquartiere oder in die Agglomeration exportieren? Diese Frage lässt sich aus drei Gründen klar verneinen: Erstens verhindert nur schon die heutige Baugesetzgebung die Errichtung von dichten Strukturen, wie sie die Altstadt prägen. Zweitens zeichnen sich die Bebauungsmuster einerseits durch eine kleinteilige Fragmentierung und Nähe aus, andererseits sind es gerade diese historischen Strukturen, die ihrerseits wieder eine kolossale Homogenität herstellen, sodass sich beinahe metergenau sagen lässt, wo die Grenzen der mittelalterlichen Stadt heute liegen. Schliesslich lässt sich die privilegierte Lage im Stadtzentrum, an der Mündung des Sees nicht einfach in die Peripherie übertragen.

Zentrum, Peripherie – oder Region?
Wie könnte denn die heute so drängende raumplanerische Frage gelöst werden, dass möglichst viele Leute zentral wohnen wollen und auch können sollen, dass es aber im Zentrum nur begrenzten Platz gibt?

Grundsätzlich sind zwei Lösungs­ansätze erkennbar: Zum einen werden zukünftig ohnehin mehr Menschen im städtischen Ballungsraum wohnen, was dazu führt, dass die ­Agglomeriationsgürtel wachsen. Die Planer versuchen diesen Vorgang zu versüssen mit der Aufwertung von städtisch peripheren Zentren, Pärken etc. Es wäre aber auch denkbar, die ­regionalen Zentren wieder vermehrt aufzuwerten, durch die Auslagerung von Arbeitsplätzen und Institutionen. Wer heute Glarus oder Grenchen besucht wird erkennen, dass diese Innenstädte nicht gerade vom Siedlungsdruck erdrückt werden und dass etliche Geschäfte leer stehen. Wäre es im Zeitalter der digitalen ­Arbeit nicht auch möglich, den eher peripher gelegenen Orten, die durchaus ihren Charme besitzen, wieder Leben einzuhauchen? Die Lösung für den Umgang mit dem knappen Gut Boden wird wohl eine Mischung aus beiden Lösungsansätzen sein.

Das Beispiel unserer Altstadt zeigt in einer Langzeitstudie auf, was dabei unter keinen Umständen vergessen geraten darf: Dass mit den gewach­senen Quartierstrukturen behutsam umgegangen werden muss und dass nicht jedes Quartier einfach nach­verdichtet werden kann.

Als kleiner Junge bin ich einmal an ­einer Hochzeit eingeschlafen – ausgerechnet unter dem Flügel der Band, die zum Tanz aufspielte. In ähnlicher Weise fühle ich mich auch heute noch sehr wohl, wenn ich mich zum Schlafen lege und im Hintergrund den «hustle and bustle» der Stadt höre und fühle, die Ruhe im Auge des Sturms gewissermassen. So gesehen kann ich dem Schlagwort vom Dichtestress nicht allzu viel abgewinnen, im Gegenteil.

Ich denke, man sollte beginnen, Dichte und Nähe als Qualität zu begreifen. Die Altstadt ist hierfür ein gutes Beispiel.

Andreas Keller

 

Unser Gastschreiber
Andreas Keller (1973) ist in Herrliberg aufgewachsen und besuchte das Gymnasium Hohe Promenade in Zürich. Das Architekturstudium an der ETH schloss er 1999 ab. Im Jahr 2003 gründete er ein Architekturbüro, an der Gartenstrasse im Kreis 2, das er heute mit einem Partner führt. Das Büro Keller Branzanti Architekten ist seit 2016 an der Oberdorfstrasse ­domiziliert. Andreas Keller macht vor allem Umbauten, viele im historischen Kontext.
2001 zog er in die Altstadt, wo er mit seiner Partnerin Christina Lang und mit den beiden Töchtern Aurelia (8) und Julia (4) lebt. Er segelt Regatten auf dem Zürichsee und ist seit einigen Jahren im Vorstand des Elternvereins Altstadt.   

Foto: EM