Mit Fingerhut, Charme und Nadel

Lange wurden im Ladenlokal an der Oetenbachgasse 13 Waffen verschiedener Kaliber verkauft. Dann folgten Taschen und Rucksäcke von Reto Ruffner. Die Tradition dauert weiter an, denn in der Schneiderei Keel heissen die «Waffen» heute Nadel, Schere und «Gufe» und die gefertigten Taschen sind aus Stoff oder gehäkeltem Garn.

Bekannte und weniger bekannte Gesichter, man begrüsst sich und schon purzelt der bekannte Ablauf eines Werkstattbesuches durcheinander. Die Apérohäppchen liegen bereits auf dem Zuschneidetisch, Getränke werden schon bei der Begrüssung gereicht und die charmante, blondgelockte Gastgeberin denkt nicht daran, einen Vortrag zu halten, sondern schaut fröhlich in die Runde und sagt, dass sie sich sehr über den Besuch von uns allen freue und sie sei gerne bereit, alle Fragen zu beantworten. Ganz kurz ist eine leichte Verunsicherung der Werkstattbesuch-Habitués zu spüren, dann folgen Fragen auf Fragen, die, begleitet von Anekdoten, beantwortet werden.

Gelernt bei der Gräfin
Agnes Keel, gebürtige Ungarin, ist seit neun Jahren in ihrem Atelier an der Oetenbachgasse und fühlt sich hier sichtlich sehr wohl. Ihre Umgebung ist geprägt von gestylten Kleidern im benachbarten «Paradis des innocents», dem Kinderkleiderladen «Catimini» und dem legendären Mercerie-Geschäft Keck. Dazwischen ist das Weinkontor und kleine Esslokal «Ojo de Agua». Ein Kaffee zur Stärkung oder ein Glas Wein zum Ausklang des Arbeitstages im Gespräch mit Freunden und Nachbarn ist immer schön. Es herrscht eine familiäre Stimmung und ein guter Austausch untereinander.
Eigentlich wollte Agnes Keel Köchin werden. Das fand ihre Mutter eine ganz schlechte Idee und steckte die Tochter ins Gymnasium, wo sie mit der Matura abschloss. Anschliessend besuchte sie die Schneiderschule in Budapest und absolvierte eine dreijährige Lehre im Atelier der Gräfin Katja von Windischgretz. Hier lernte sie das Handwerk von der Pieke auf, vor allem die Handarbeit. Die Liebe brachte sie dann nach Zürich, wo sie heute mit ihrem Mann am Löwenplatz lebt. Nach einer einjährigen Anstellung als Schneiderin machte sie sich selbständig und eröffnete an der Löwenstrasse eine eigene Schneiderei, die sie 2005 in die heutige Lokalität verlagerte.

Fingerspitzengefühl nötig
Das Kerngeschäft von Agnes Keel und ihrer Angestellten, Salome Isler – sie ist nicht anwesend, da sie auf Hochzeitsreise ist – besteht zu fünfzig Prozent aus Neuanfertigungen (zum grossen Teil auf Bestellung) und zur anderen Hälfte aus Änderungsaufträgen.
Im Laden gibt es ein kleines Stofflager mit feinen Stoffen aus Ungarn, England und Italien. Meistens bringen die Kunden aber den eigenen Stoff mit. Fehlen Accessoires wie Knöpfe und anderes, wird das bei Nachbar Keck ausgesucht. Die Kunden haben das gewünschte Kleidungsstück im Kopf oder bringen ein Bild mit. So wird zuerst ein Schnittmuster hergestellt, das nach Fertigstellung aufbewahrt wird. Nach zwei bis drei Anproben ist das persönliche Kleidungsstück fertig. Die Arbeit für einen Hosenanzug oder einen Wintermantel kostet etwa 1000 Franken, je nach Aufwand.
Für diese Arbeit ist auch eine gesunde Portion Psychologie nötig. Nicht selten müssen die Kunden darauf aufmerksam gemacht werden, dass das mitgebrachte Bild ein langbeiniges, mageres Mannequin zeigt, das eine andere Figur als die Kundschaft hat – und so werden Änderungen im Schnittmuster besprochen. So ging es einer Kundin, die ein Kleid in Auftrag gab und in die Ferien fuhr. Nach dem «All-inclusive»-Aufenthalt in Griechenland hatte sie sich einige Pfunde zugefuttert und viele Nähte mussten wieder ausgelassen werden! Da ist Agnes Keel sehr flexibel und kann herzhaft darüber lachen.
Das zweite Standbein der Schneiderei sind eigene Kreationen wie gehäkelte Taschen, die Agnes Keel gerne von ihrer Mutter anfertigen lässt, Kissen mit diversen Motiven oder auch schöne Schürzen. Ich habe eine Lobster-Schürze verschenkt und finde das immer wieder ein wunderschönes Stück.

Mit dem Züri-Sack
Eine weitere Erfindung sind auch die Einkaufstaschen mit dem Motiv Züri-Sack mit dem Aufdruck 17 oder 35 Liter. Zustande kam diese Idee bei einem Feierabendbier vor dem «Ojo de Agua», als eine Frau beobachtet wurde, die ihren Züri-Sack zum Abfallcontainer trug. Da stellte sich die Frage: was trägt die Zürcherin am Abend? Einen Züri-Sack!
Agnes Keel kommt wieder auf das Handwerk zurück. Es erstaunt sehr, wie viel Handarbeit in einem Kleidungsstück steckt. Das ganze Innenleben, das Futter, wird von Hand eingefügt. Aber selbstverständlich gibt es heute auch diese genialen Maschinen, die uns Agnes Keel stolz zeigt. Da gibt es die gute alte Bernina, die einfach ohne Schnickschnack geradeaus näht, aber mit Präzision. Die zweite ist zäh und näht auch dicke Stoffe oder Leder. Dann gibt es die Blindstichmaschine, die, wie der Name sagt, blinde, also unsichtbare Stiche näht, zum Beispiel für Säume. Und dann zeigt uns Agnes Keel noch die Knopflochmaschine. Diese Maschine hat gebraucht bereits 10 000 Franken gekostet. Das lohnt sich dann auf die Dauer schon, wenn man bedenkt, dass ein von Hand genähtes Knopfloch etwa eine gute halbe Stunde Arbeitszeit braucht.
Ja, und nun ist unser Wissensdurst gestillt. Die herrlichen, selbstgebackenen Käsestängeli sind fast aufgegessen und der Wein vom Nachbarn ist ausgetrunken.
Ein unterhaltsamer Werkstattbesuch ist zu Ende. – Schön ist es an der Oetenbachgasse.

Christine Schmuki


Schneiderei Keel, Oetenbachgasse 13, Tel. 043 444 14 00.