Was uns wichtig ist

Unser Gastschreiber Daniel Straub lebt mit seiner Familie in der Altstadt. Er macht sich Gedanken über die Anforderungen der Zeit und über Alternativen zu den eingeschlagenen Wegen.
Wenn ich meinen Ort zum Wohnen wählen könnte: Zwischen einem nigelnagelneuen perfekten Haus – oder einem ganz alten verlotterten – würde ich das Alte wählen. Weil es eine «Seele» hat. Mit Seele meine ich eine warme Atmosphäre – eine Stimmung, die einen ganz eigenen Charakter hat. Diese Qualität wird mir immer wichtiger und betrifft auch andere Lebensbereiche. Immer häufiger gehe ich in Restaurants, die eine für mich spürbare Seele haben. Natürlich habe ich auch gern feines Essen. Aber das Erlebnis wird eben auch stark geprägt durch die Vibes, welche ich dort erfahre.
Orte mit Seele
Im Extremfall würde ich sogar in eine Baracke essen gehen, sofern diese mit viel Herz gefüllt ist. Federico Pfaffen hat das mit seiner Herzbaracke (jetzt gerade beim Bellevue) erfolgreich umgesetzt und einen der gemütlichsten Räume geschaffen, die ich kenne: Der Geruch des Arvenholzes verbindet sich magisch mit Pfaffens Lust zur Gastfreundschaft. Dies als typisches Beispiel eines Ortes mit Seele. Wäre es nicht wunderbar, wenn es mehr solcher einzigartigen Orte gäbe? Wenn in der Altstadt laufend neue solche seelenvolle Orte entstehen, dann darf sie sich auch wandeln und bleibt trotzdem lebendig und aussergewöhnlich: ein Ort für Entdeckungen. Wie könnte diese Entwicklung unterstützt werden? In der Altstadt, aber auch darüber hinaus?
Orte oder Produkte voller «Seele» sind immer Unternehmen, wo jemand seine ganz eigene Vision verwirklicht hat. Ich wünsche mir mehr davon. Das führt zur Frage, welche Wirtschaft und überhaupt welche Gesellschaft wir in Zukunft wollen. Im Moment scheinen uns Profit und quantitatives Wirtschaftswachstum am wichtigsten. Der öffentliche Diskurs wird oft so geführt, als ob Alternativen gar nicht denkbar wären. Wie bereits bei Margaret Thatcher gilt das Prinzip «TINA»: There is no alternative. Es gibt keine Alternative.
Alternativen gesucht
Ich glaube, wir befinden uns in einem immensen Wandel: zum Beispiel wegen Phänomenen wie Digitalisierung und Globalisierung. Im Zuge dieses Wandels entstehen Gestaltungsmöglichkeiten – und damit Raum für Alternativen. Damit ist nicht gemeint, dass man das aktuelle System komplett auswechseln soll. Aber ich wünsche mir eine Debatte über die Frage, was uns wichtig ist. Wollen wir in Zukunft vor allem mehr Geld, um mehr Dinge zu kaufen? Oder wollen wir mehr Freiraum, um mehr uns selbst zu sein? Mehr Zeit haben für die Dinge, die wir gern tun? (Zum Beispiel für den Altstadt Kurier einen Gastbeitrag schreiben.)
Dabei plädiere ich nicht für eine unprofessionelle Bastelwirtschaft, in der alle jenseits von Kundenbedürfnissen vor sich hinwerkeln. Aber ich möchte mich auf die Suche machen, wie wir uns organisieren können, damit die Menschen mehr das tun, was sie gern machen.
Wenn uns das gelingt, dann sind wir kreativer, produktiver und glücklicher. Ich bin überzeugt, dass das möglich ist. Dass unser Wohlstand Freiräume dafür bietet. Dass wir viele scheinbare Sachzwänge überwinden können.
Nur für eine Elite?
Wenn ich nun solche Argumente zum Beispiel am «Stammtisch» vorbringe, werde ich als Träumer abgestempelt. Mir wird entgegengehalten, dass sich meine Ideen von intrinsisch motivierten Menschen für eine privilegierte Elite eignen würden, aber nicht für die meisten Menschen. Darauf frage ich: Waren wir als Kinder nicht alle neugierig und voller Tatendrang? Jetzt verlagert sich die Debatte auf das Schulsystem, indem ich Schulen fordere, welche die Kinder ermutigen, auf ihre innere Stimme zu hören: Ihnen mehr Freiheit und Verantwortung überträgt.
Denn dann hätten wir mehr Menschen, die mit Mut ihre eigene Vision verwirklichen würden.
Falls Sie – liebe Leserin und lieber Leser – diese Fragen auch interessieren, würde ich gerne mit Ihnen darüber diskutieren.
Sprechen Sie mich bitte an, wenn Sie mich das nächste Mal an einem meiner seelenvollen Lieblingsorte treffen: Wenn ich auf dem Rindermarkt vor dem Schaufenster von Massimo Biondi schmunzelnd stehen bleibe und seine Installation bewundere, wenn ich einen Vorwand zum Feiern gefunden habe und im «Kindli» einkehre, oder am marktwirtschaftlichsten Ort von Zürich: Am Flohmarkt auf dem Bürkliplatz.
Daniel Straub
Unser Gastschreiber
Daniel Straub (1967) ist in Luzern aufgewachsen. Er hat eine Handelsschule absolviert und zunächst Betriebsökonomie an der Fachhochschule, später in Kalifornien Internationale Politik studiert. Zurück in der Schweiz, studierte er an der Uni Bern Psychologie. Er arbeitete unter anderem ein Jahr als IKRK-Delegierter in Afghanistan und vier Jahre als Leiter einer Montessori-Schule in Siebnen. Zusammen mit einem Partner lancierte er die Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Heute ist er selbständig tätig (www.intrinsic.ch) und begleitet Einzelpersonen und Firmen beim Lernen.
Seit 2008 wohnt er in der Altstadt, seit 2015 mit seiner Partnerin Eliane Vernier und den drei Kindern. Am Flohmarkt am Bürkliplatz hat er seit zehn Jahren einen Stand.