Alltag und -nacht in der Altstadt

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Unser Gastschreiber Mario Beretta lebt seit vielen Jahren in der Altstadt, die er als Wohnquartier sehr schätzt. Allerdings wird seine Freude dort zu leben durch einiges getrübt.

Meine allerersten Erfahrungen als Bewohner der Altstadt machte ich in den frühen Siebzigerjahren, als das Schauspielhaus, ich war damals dort musikalischer Mitarbeiter, mir eine süsse kleine Einzimmerwohnung an den Unteren Zäunen vermittelte. Sie wurde mir dann aber doch zu eng, zumal ich meinen Flügel höchstens senkrecht hätte unterbringen können. So zog ich für volle vierzehn Jahre in den Kreis 2, aber wie Sie ja wissen, lieber Leser, gehört der Kreis 2 aus der Sicht eines Altstadtbewohners zur tiefsten Agglomeration. Nach weiteren vier Jahren in Thalwil musste ich 1997 aus privaten Gründen ganz dringend eine Wohnung finden. Herr Stahel von der Ligi hatte, auch für einen ehemaligen Mieter, keinerlei Vakanzen. So wollte ich, um doch ein Dach über dem Kopf zu haben, mich in Wollishofen niederlassen. Just einen Tag, bevor ich den Mietvertrag hätte unterschreiben sollen, rief mich Herr Stahel an und sagte kurz und trocken: «Ich hätte da eventuell doch noch etwas für Sie.»

Umzug mit Flügel
Ich raste zur Besichtigung, hatte sofort nur ein Bedenken: «Kann man meinen Flügel durch dieses enge Treppenhaus in den vierten Stock transportieren?» Ich raste zum Musikhaus Hug und zurück mit dem Transport-Verantwortlichen, Herrn Lieb, schaute ihm eine gute Dreiviertelstunde nervös zu, wie er mass und wieder mass und schliesslich sagte: «Ich stelle Ihnen Ihren Steinway hoch, aber nur, wenn er mindestens fünf Jahre dort oben bleibt. Zudem geht es nur, wenn wir im dritten Stock in die Wohnung rein können, um zu drehen.»
So musste ich die Mieterin unter mir, und deshalb bezeichnete ich sie seither als meine Untermieterin, Ursula Koch, um Erlaubnis bitten, meinen Flügel in ihrer Wohnung zu wenden, was sie sofort bewilligte und mir die Schlüssel überreichte.
Diese grosszügige Selbstverständlichkeit meiner neuen Nachbarin nahm ich als gutes Zeichen und so steht mein Flügel unterdessen nicht nur mehr als fünf, sondern über zwanzig Jahre in dieser wunderschönen, am höchsten Punkt fünf Meter hohen Dachwohnung und klingt wie in einem Konzertsaal. Aber nicht nur der Flügel, auch ich darf nun schon so lange diese Wohnung am Predigerplatz mein Zuhause nennen, hier komponieren, unter anderem Musiken zu den Filmen «Vollmond» und «Vitus» von Fredi M. Murer, Spiegelgasse 29, Klavier üben – eine Hausbewohnerin sagte mir, sie öffne jeweils ihre Wohnungstüre, damit sie mich besser hören könne – heiraten, zum zweiten Mal, essen, putzten und schlafen, leben.
Nun, das Leben hat ja bekanntlich auch Schattenseiten. Deshalb möchte ich es so halten wie am Sonntagstalk auf Tele Züri. Dort werden die Politiker jeweils aufgefordert, zuerst ihre Lust und dann ihren Frust der vergangenen Woche kundzutun.
So werde ich Ihnen zuerst von der Sonnenseite und dann halt auch von einigem Frust meiner letzten zwei Jahrzehnte als Altstadtbewohner erzählen.

Viel Schönes
Diese Altstadt, die ja eigentlich ein Dorf, s’Dörfli ist, bietet uns, meiner Frau und mir, enorm viel Schönes. Angefangen beim Blick aus dem Küchenfester auf die Predigerkirche, die Zentralbibliothek und auf das Blätterdach über dem Parkplatz, auf die kraftvollen Platanen, über die sehr angenehme Hausgemeinschaft, auf deren Hilfestellungen wir uns voll verlassen können, wenn wir welche benötigen bis zu all den Bekannten in den umliegenden Gassen. Ich kann nicht aus dem Haus gehen ohne eine kurze Begegnung mit Menschen, die entweder auch hier wohnen oder zumindest hier arbeiten.
Da ist zum Beispiel Ducca, der Kellner im Hotel Adler, dem ich an einem heissen Sommertag, wenn einige Japaner oder Chinesen vor einem noch heisseren Fondue sitzen, zurufe: «Hüt isch Fondue-Wätter», worauf wir herzhaft lachen, und wenn er es zeitlich sich leisten kann, einen kurzen Schwatz abhalten, meistens über die Schachspieler auf dem Lindenhof, die er oft locker schachmatt setzt. Oder Tania und ihr zehnjähriger Sohn Leo, die ein Nähatelier drei Häuser weiter oben führt. Bei ihr geht es dann meistens philosophisch zu und her, denn sie ist durch ihre Meditationen, gebeugt über ihre Arbeit, eine sehr kluge Frau geworden. Auch Jürg, der am Feierabend in seinem Gravierladen sitzt und ganz alleine für sich Akkordeon spielt, höre ich gerne zu, möglichst ohne dass er es merkt. Andy vom Schlüsselangst, Marcello in seinem Reisebüro und andere, sie alle geben eine gewisse Wärme in die unmittelbare Umgebung von meinem Zuhause.

Unerfreuliches
Aber dann gibt es eben auch noch diese andere Seite, und da ich am Predigerplatz wohne, steht es mir zu, für einmal eine Predigt zu halten: Liebe Verantwortliche, liebe Polizei, liebe Dienstabteilung Verkehr und andere. Es geht nicht, dass ihr eine teure Polleranlage baut und sie dann wieder stilllegt, fast gleichzeitig, dass ihr die Barrieren abbaut, ohne Ersatz, vor nun schon gut drei Jahren, und damit unsere Lebensqualität massiv einschränkt. Es geht nicht, dass ihr jedes Wochenende laute Partys vor unserer Haustüre zulasst. Es geht nicht, dass dieses Juwel Altstadt akustisch verslumt. Wir brauchen und verlangen Schutz, in erster Linie Lärmschutz, vor allem nachts. Sonst hole ich den grossen Reformator, ich habe ihn schon angeschrieben.
«Lieber Huldrych Zwingli, in Deiner Stadt läuft alles aus dem Ruder. Horden von ‹Agglos›, viele davon anständige Gäste, besuchen fast täglich die Innenquartiere. Eine Minderheit aber benimmt sich wie auf einem Saubannerzug. Sie werfen Abfall auf die Strasse, urinieren an die Mauern Deiner wunderschönen Kirchen und rasen auf Motorrädern und Sportwagen mit gesetzwidrig frisierten Auspuffanlagen durch tausend Kinderträume. Huldrych bitte hilf!»

Mario Beretta


Unser Gastschreiber
Mario Beretta (1942) ist in Grabs SG und Buchs SG aufgewachsen, ab 12 in Uitikon. Er absolvierte eine Handelsschule und liess sich am Konservatorium zum Pianisten ausbilden. Es folgten weitere Studien in Pädagogik, Komposition und Dirigieren. Er arbeitete an Mittelschulen als Klavierlehrer und war 1975 bis 1985 musikalischer Mitarbeiter am Schauspielhaus. Er wirkte als Dozent an der Pädagogischen Hochschule und ist seit 1986 freischaffend tätig als Dirigent, Komponist und Pianist. Er vertonte Filme und war musikalischer Leiter von Theaterproduktionen. Seit vier Jahren ist er Chefdirigent der Zürcher Symphoniker. Er ist verheiratet und lebt seit 1997 in der Altstadt.