«Alles in Allem» neu

Dies ist das Zürich-Buch des Jahres, ein ideales Geschenk für alle, die wissen wollen, wie Zürich in die Moderne eingetreten ist. Kurt Guggenheims Roman «Alles in Allem» ist eine Kostbarkeit von 1115 Seiten und taufrisch, obwohl das Monumentalwerk des Zürcher Autors schon in den 1950er-Jahren zum ersten Mal erschienen ist.
Anhand der Schicksale von Menschen und Familien malt Guggenheim ein Panoramabild von der Entwicklung der Stadt Zürich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Alles und alle kommen vor: die verzopften Altzürcher, die nachdrängenden Jungen, die dominanten Deutschen, die Juden. Es wäre der Plot für eine Fernsehserie!
Kurt Guggenheim (1896-1983) war ursprünglich Kaufmann und Buchantiquar. Die Pleite des vom Vater geerbten Kaffee-Importgeschäfts wendete sein Leben. Ab 1934 lebte Guggenheim als freier Schriftsteller, hatte seinen Durchbruch mit «Riedland», der Geschichte der Erdölbohrungen am Obersee, schrieb Drehbücher für die patriotischen Kassenschlager der Praesens-Film (unter anderem «Wachtmeister Studer» und «Wilder Urlaub»). Sein Geld verdiente er als Werbetexter und Pressechef der Winterhilfe.
«Alles in Allem» erschien ursprünglich in vier Folgen; es war der Höhepunkt von Guggenheims Schaffen. Dass er nicht vergessen wird, ist das Verdienst des Literaturhistorikers und Publizisten Charles Linsmayer, der auch die Stiftung betreut, welche die Autorenrechte verwaltet.
Linsmayer, ein unermüdlicher Schatzgräber, hat schon das Leben vieler Schweizer Autoren verlängert. Unvergessen ist sein Bücherzyklus «Frühling der Gegenwart», ermöglicht von einer Ex Libris, die damals noch die soziale kulturelle Mission der Migros ins Bücherwesen einbrachte.
Mit seinen kenntnisreichen Nachworten und einer enormen publizistischen Tätigkeit gelingt es Linsmayer immer wieder, Guggenheims Werk in aktuelle Zusammenhänge zu stellen. Dieses Mal verknüpft er es mit dem grossen Thema der sozialen Integration des Fremden ins zürcherisch Einheimische.
Wer anders als der intergrierte Jude Guggenheim hätte ein solches Buch schreiben können? Es ist eine Kette von Romanen und eine geradezu rührende Liebeserklärung an die friedliche, offene Stadt- und Staatsgemeinschaft.
Es war eine blendende Idee Linsmayers, den bekannten Zürcher Illustrator Hannes Binder um die optische Begleitung des monumentalen Schriftwerks zu bitten. Der unverwechselbare Stil des «Schwarzmalers, der eigentlich ein Weissmaler ist» (Linsmayer) frischt die Guggenheim’sche Szenerie auf, etwa indem er auf der Zeitachse Purzelbäume schlägt und etwa die Formensprache von Calatrava übernimmt.
Die Stadt Zürich hat Guggenheim ein Denkmal gesetzt, das zu seiner Bescheidenheit passt. Sie hat die wahrscheinlich kürzeste Strasse (beim Hotel Baur au Lac) nach ihm benannt.

Karl Lüönd


Kurt Guggenheim: «Alles in Allem», Roman. Mit einer Einführung und 28 Illustrationen von Hannes Binder neu herausgegeben von Charles Linsmayer, 1115 Seiten, Th. Gut Verlag Zürich 2018, Fr. 49.–.

«Alles in Allem, eine Theaterreise quer durch die Stadt Zürich in 12 Stunden»: Vom 11. Mai bis 30. Juni wird ein Theaterprojekt von Peter Brunner realisiert, das auf dem Buch «Alles in Allem» von Kurt Guggenheim basiert und an acht Aufführungsorten spielt. Informationen unter www.alles-in-allem-zuerich.ch.