In verschiedenen Welten zu Hause

Unsere Gastschreiberin Rahel Sadkowsky ist in der Altstadt aufgewachsen, wo sie heute noch lebt. Sie kennt ihr Quartier aus unterschiedlichen Perspektiven, als Bewohnerin und als Ladenbesitzerin.
1966, ich war sieben Jahre alt, eröffnete mir meine Mutter, dass wir umziehen werden. Kreis 1, Lindenhofstrasse. Widerwillig und nur unter der Bedingung, dass die neue Wohnung einen Balkon hat, stimmte ich zu und tatsächlich, da war ein kleiner Balkon hofwärts vorhanden! Nichts sonst, aber eine hinreissende Aussicht auf die Limmat, aufs Niederdorf und den ganzen Zürichberg bis zum Waldrand hoch. Am Fenster konnte ich stundenlang verweilen.
Ich bin nicht bürgerlich aufgewachsen. Künstlerfamilie. Meine Schulkollegen waren meine Freunde. Die wohnten im Stadthaus, im Zunfthaus, an der Bahnhofstrasse. Ich zeichnete fürs Leben gern, aber die Warenhäuser, die waren meine Spielwiese. Waren aller Art und deren Präsentation, das zog mich an. Nach der Sekundarschule besuchte ich den Vorkurs der Kunstgewerbeschule. Die Ausbildung als wissenschaftliche Zeichnerin hätte mir gefallen, aber ich nahm das Ganze zu wenig ernst. Ich wusste nicht, was aus mir werden sollte.
Zufällig suchte das Porzellanmalgeschäft an der Marktgasse 13 1977 eine Praktikantin. Dort fing ich an zu arbeiten und bevor ich nach einem Jahr eine Verkäuferlehre zu absolvieren begann, konnte ich schon alles, auch Porzellanmalen. Das waren Welten in diesem Haus, die aufeinander prallten. Im ersten Stock der Sexshop und auf jeder weiteren Etage ein Massagesalon. Wir im Erdgeschoss, mit den feinen Damen, es war amüsant.
Eigener Laden
1983 eröffnete ich im Seefeld meinen ersten eigenen Laden, eher mit Atelieratmosphäre. Wenn ich keine Kundschaft hatte, colorierte ich allerlei. Daher der Name des Ladens: Coloritis.
Als ich meinen damals zukünftigen Exmann kennenlernte, wollten wir als Familienbetrieb damit seriös unsere Existenz bewerkstelligen. 1991 bot sich die Gelegenheit, am Neumarkt 1 ein gemeinsames Geschäft zu eröffnen. Wir wohnten hier und wir arbeiteten hier. Ich war mit meiner Tochter schwanger. Kurz nach der Eröffnung stellte sich eine Frau aus dem Quartier vor der offenen Ladentüre auf und rief ihrem Mann zu: «Wieder so ein Laden mit Zeugs, das man nicht braucht, mal schauen, wie lang das hält!» Nein, so hatte ich mir den Einstand nicht vorgestellt! Die Altstadt hatte ein anderes Gesicht bekommen. Ich fühlte mich mit dem, was wir da taten, von Einzelnen misstrauisch beobachtet…
Wir rackerten uns anfangs sehr ab und ich war froh, im Oberdorf zu wohnen, damit ich der dauernden Frage, wie es denn laufe, manchmal ausweichen konnte. Mit der Zeit baute sich ein immer grösser werdender Kundenkreis auf, der unser Überleben einigermassen sicherte. Trotzdem schwebte mir ein zweites Standbein mit der Malerei vor. Ich wollte Auftragsarbeiten mit Kinderporträts ausführen, auf denen Kinder mit dem Pinsel selbst etwas hinterliessen.
Neue Situation
Das Ganze wurde hinfällig, als ich 2004 von einem Tag auf den anderen als alleinerziehende Mutter mit mittlerweile zwei Kindern dastand. Zügig musste ich mich darauf einstellen, die Arbeit mit dem Laden wieder voll aufzunehmen.
Es begann für meine Kinder und mich ein neuer Lebensabschnitt, der darin mündete, von der Kruggasse, einer Wohnung, so dunkel, dass man nicht wusste, was für Wetter draussen war, an den Rindermarkt umzuziehen, in eine Wohnung mit Balkon! Was für ein Glück für uns! Alles war neu und für die Kinder gut zu bewerkstelligen. Es bedeutete viel Arbeit und Verantwortung für mich. Jeder lebt in seiner Gesellschaft und hinter jeder Tür ist Schicksal. Meine sozialen Kontakte bestanden aus den Begegnungen im Laden und mit anderen alleinerziehenden Mütter. Ich ging sieben Jahre nie aus. Kannte niemanden mehr. Vor der totalen Verkümmerung wurde ich gerettet. Ich fand einen Gefährten, der mich auch wieder zur Malerei motivierte.
An Passantenlage
2009 zog ich mit dem Laden an die Münstergasse 25 um. Dorthin, wo sich in den Augen vieler, die hier wohnen, die eher «Unerwünschten» aufhalten. Ich sehe das Leben hier aus verschiedenen Perspektiven. Das hält mich davon ab, mich wie der einzig gültige Massstab aufzuführen. Über die neue Plötzlichkeit mit den vielen, vielen Touristen, die es in Gruppen bis in die hinterletzten Gassen spült, lass ich mich nicht mehr als nötig aus und über die neue Spezies der «Handyoten» auch nicht. Es ist allseits registrierbar.
Seit 35 Jahren habe ich meine Existenz gehalten. Selbstständig erwerbend, kleines Einzelgewerbe. Diese Lebensform ist heute mehr denn je gebeutelt und unter Druck, auf Gedeih und Verderb den neuen starken Einflüssen der absoluten Konsum-Bequemlichkeit unterworfen.
Mit Herzblut
Das nimmt die Gesellschaft heute als normal hin. Oft wird geglaubt, alle Läden hier wollen einzig Ware raushauen, aber dem ist nicht so! Alle Ladenbesitzer in der Altstadt, die ich kenne, geben tagtäglich ihr Herzblut in ihre Existenz und tun es eigentlich gern. Jeder leistet seinen Beitrag zu einem unbezahlten Service Public, der die Altstadt bereichert und ihr ein interessantes Gesicht gibt.
Was mich als Gewerbetreibende umtreibt, ist gute Beratung, Qualität, Sorgfalt, ein freundlicher Umgang mit den Menschen und tagtägliches Hoffen und Bangen auf ein Gelingen, damit man am Ende des Monats seine Rechnungen bezahlen kann.
Eigentlich verkaufen wir im besten Fall Freude. Um die gehts! Ohne Freude ist alles nichts! Was bräuchte es sonst hier, ausser dem historischen Gebäudehintergrund fürs Selfie, einer Apotheke und einem Lebensmittelgeschäft mit gepflegter Weinabteilung?
Ich wünsche allen für 2019 einen Mehrwert an Freude und Achtsamkeit und mir persönlich jemanden, dem ich tageweise meinen Laden anvertrauen kann, damit ich endlich eine Ausstellung bewerkstelligen könnte.
Rahel Sadkowsky
Unsere Gastschreiberin
Rahel Sadkowsky (1959) ist in Zürich aufgewachsen und lebt seit 1966 im Kreis 1. Ihr Vater ist der bekannte Kunstschaffende Alex Sadkowsky. Ihre Mutter Sonja führte während Jahren das GZ Altstadthaus. Rahel Sadkowsky ist Mutter von zwei Kindern und hat seit 1991 einen Laden im Quartier, den «Coloritis», zunächst am Neumarkt, seit 2009 an der Münstergasse 25. Unter dem Motto «individuell, originell, fair» verkauft sie Damenbekleidung, handgefertigten Fantasieschmuck, Accessoires und Objekte. Daneben pflegt sie ihre zweite Leidenschaft, das Malen.
Mit ihrem Partner Christian Schwarz und ihrem Sohn lebt sie am Rindermarkt 20.