Der Profi mit Nadel und Faden

Der letzte Werkstattbesuch mit dem Altstadthaus führte zur Schneiderei Adler am Rindermarkt 7, wo Ersin Böyükkartal seinen Gästen sein Handwerk näher brachte.
Zwölf Personen (und ein nur wenige Wochen altes Baby) drängten sich in der kleinen Schneiderwerkstatt, um zu erfahren, wie sich Ersin Böyükkartal am Rindermarkt eingelebt hat und was er da alles herstellt und anzubieten hat.
Ersin ist im Osten der Türkei geboren und in Istanbul aufgewachsen. Bereits als Kind hat er neben der Schule in Nähmanufakturen gearbeitet, eben so, wie das zur türkischen Kultur gehört. In einer Trikot-Fabrik hat er zusammen mit 40 bis 50 Arbeiterinnen und Arbeitern Poloshirts genäht und nach Schulabschluss bald schon die Zuschneide-Technik erlernt. Es folgten Damenkleider, Hosen, Blusen und Röcke. Ersin hat keine klassische Schneiderausbildung gemacht, sondern die Textilbranche von Grund auf kennengelernt und die Ausbildung als Design-Schneider abgeschlossen. Die Abschlussarbeit zum Meister war der Herren-Massanzug.
Entwicklung
Als Teamleiter hat Ersin in einer Schneiderei in Istanbul eine Abteilung für Massanzüge aufgebaut. Die Modelle hat er oft selber entworfen oder von anderen Designern zeichnen lassen. Er arbeitete als Modelldesigner und Modellnäher und kreierte Prototypen für grössere Produktionen und Marken. Mit diesem Wissen und Können im Rucksack ist Ersin 2011 in die Schweiz gekommen. Sofort hat er unsere Sprache erlernt, in der er sich sehr kundig ausdrücken kann. Schnell fand er in einer renommierten Schneiderei in Zürich eine Anstellung.
Der Schritt in die Selbständigkeit
Anfangs 2018 nutzte er die Gelegenheit, die eigene Schneiderwerkstatt am Rindermarkt 7 zu gründen. Hier hat er sich im kleinen Atelier gut eingerichtet und für seinen ganzen Maschinenpark einen Platz gefunden. Er sitzt im Schaufenster und man kann ihm beim Arbeiten zusehen und er schaut in die Gasse oder auf seine Arbeit. Der hintere Teil der Werkstatt, abgetrennt durch einen Vorhang, gleicht einer Katakombe. Unverputztes Mauerwerk, sehr eindrücklich, und es wird einem klar, dass Ersin früh gelernt hat, aus wenig Raum das Optimale herauszuholen. Da ist Platz für ein gediegenes Stofflager: Wolle, Kaschmir und Baumwolle aus Italien und England, edle Fabrikate von Loro Piana, Carnet, Holland & Sherry und anderen bekannten Labels. Letztere kosten schnell 1200 Euro per Meter, während es günstigere Materialien bereits ab 50 Franken gibt. Für einen Herrenanzug braucht es 3,5 bis 4,5 Meter Stoff und für einen Massanzug kommen dann 35 bis 40 Stunden Arbeit dazu. Es versteht sich, dass so ein Anzug seinen Preis hat… Ein Massanzug aus edler Wolle kommt auf 1500 bis 2000 Franken zu stehen. Dank günstigem Stoffeinkauf und Auslagerung von Handarbeiten in der Schweiz und der Türkei gibt es aber auch immer ein Schnäppchenangebot, das im Schaufenster angepriesen wird.
Schnittmuster und weitere Utensilien sind in Papiersäcken unter dem Tisch verstaut und jederzeit griffbereit. In Anlehnung an die Lehrjahre in der Türkei fertigt Ersin seine Schnittmuster am liebsten aus Zeitungspapier. Zum Zuschneiden ist in der Schneiderei kein Platz. Das macht Ersin zu Hause auf dem grossen Esstisch. – An einem der Gäste demonstriert unser Gastgeber, wie Mass genommen wird. Es braucht Erfahrung und ein gutes Augenmass, um die Körperhaltung in Zentimetern zu erfassen. Alle Zahlen werden in ein exakt vorbereitetes Formular eingetragen und so auf ein Grundmuster des gewünschten Anzuges übertragen. So kann der Anzug mit nur einer Anprobe fertiggestellt werden. Ersin fertigt auch Masshemden, Damenblusen und viele andere Kleidungsstücke an. Und überhaupt: er kopiert Kleider, macht Änderungen und flickt das kaputte Lieblingsteil, damit es wieder getragen werden kann.
Maschinenpark
Zum Schluss zeigt und erklärt uns Ersin stolz seinen «Maschinenpark». Neben seinem Hauptnähgerät ist da noch eine Nähmaschine für dicke Stoffe wie Jeans oder Leder. Ein «Schatzstück» ist die teure Industriemaschine, die in wenigen Sekunden ein sauberes Knopfloch näht, das früher in mühseliger Arbeit im Zickzackstich genäht werden musste. Und da ist noch das Wunderding, das nach Vorlage beliebig Logos stickt, wie das Logo, das auf den hübschen Poloshirts der Cateringmitarbeitenden der Metzgerei Zgraggen zu sehen ist!
Nach einem Apéro mit türkischen Köstlichkeiten verabschieden wir uns vom charmanten und liebenswürdigen Gastgeber und manche Besucher überlegen sich bereits, welches geliebte Stück sie sich in einer anderen Farbe nachschneidern lassen möchten!
Christine Schmuki
Adler Schneiderei, Rindermarkt 7, Tel. 078 663 66 25.