Ein Kreis hat sich geschlossen

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Unser Gastschreiber Hans Jecklin hat fast zwanzig Jahre im Kanton Freiburg gelebt und ist vor einigen Jahren zurückgekehrt nach Zürich. Er wohnt nun in der Altstadt, mit der seine Familie seit Generationen verbunden ist.

Nun sind es schon vier Jahre, dass wir – meine Frau Elisabeth und ich – an der Oberdorfstrasse 5 wohnen. Im Gleichtakt mit den fortschreitenden Lebensjahren sind wir im Frühjahr 2015 aus der weiten Landschaft westlich von Fribourg, aus einem wunderbaren Herrenhaus mit prächtigem Garten, hierher, ins Herz der Zürcher Altstadt gezogen. Der Umzug war von langer Hand geplant; die in der Zwischenzeit durch unsere Kinder, Enkel und uns selbst genutzte Wohnung hatten wir schon einige Zeit zuvor vom ehemaligen Buchhändler Hans Rudolf Rohr erworben.
Nun, wo wir ganz hier leben, fühlt sich der Wechsel gut an. Wir schätzen das pulsierende Leben in einer Umgebung, in der hoffentlich noch lange vorwiegend gewohnt wird. Theater, Konzertsäle, Kinos und viele Gaststätten, von denen einige inzwischen zu geliebten Stammlokalen geworden sind, liegen sprichwörtlich vor der Haustür. Überhaupt sind wir überrascht, was alles per Pedes innert weniger als einer Stunde erreichbar ist: Fluntern, Balgrist, Rietbergmuseum, Helvetiaplatz, ja sogar die Markthalle im Viadukt; und wenns weiter gehen soll oder regnet, gibt es in nächster Nähe den Bahnhof Stadelhofen wie auch den Bellevueplatz als vielseitigen Zugang ins Tram- und Busnetz. Wir geniessen das ausserordentlich.
Um das nachbarliche Eingebundensein noch intensiver zu erleben, müssten wir vielleicht von uns aus noch mehr unternehmen. Auch unser Salon im Neuhaus mit Veranstaltungen zu Musik, Literatur, Philosophie und Spiritualität dürfte sich noch mehr zum quartierbezogenen kulturellen Treffpunkt entfalten; noch immer kommt die überwiegende Mehrheit der Besucher aus der übrigen Stadt und der Region.

Lärmige Überschwemmung
Natürlich gibt es auch die bekannten Schattenseiten, über die wir nicht übermässig lamentieren wollen. Mühsam ist die zunehmend lärmige Überschwemmung der Altstadt durch Touristen und die nicht nur jugendlichen nächtlichen Besucher aus der Agglomeration, die ihr Freizeitgefühl so hörbar ausleben, wie sie es sich vor der eigenen Haustür nicht wünschen würden; da das Stimmpotenzial mit steigendem Alkoholpegel zunimmt, sehen wir Pläne zur Ausdehnung der Öffnungszeiten der Aussenwirtschaften mit wenig Begeisterung. Dazu kommt die Eventfreudigkeit unserer Stadtväter sowie der Tourismus- und Gastrokreise; da scheint man sich noch nicht darüber Rechenschaft zu geben, dass sich die Betriebsamkeit einer Grenze annähert, wo ein Mehr beginnt, kontraproduktiv zu wirken. Nicht nur für die Einwohner.

Seit Generationen hier
Aber noch immer sind wir über unseren Entscheid sehr glücklich, die nächste Lebensphase mitten in der Zürcher Altstadt zu erleben. Dies umso mehr, als ich im Schreiben merke, wie tief wir über Generationen hinweg in das örtliche Netz eingewoben sind. Zu meiner beruflichen Vergangenheit gehört das Musikhaus am Pfauen, das ich zusammen mit meinem Cousin Peter Jecklin während rund 40 Jahren gemeinsam führte; auch nach dem Verkauf des Unternehmens im Jahr 2000 sind wir bis zum vergangenen Herbst mit dem «alten Haus» an der Ecke Rämistrasse/Zeltweg als Eigentümer verbunden geblieben. Erworben hatte das nach der Schleifung der Stadtbefestigung Mitte des 19. Jahrhunderts erbaute «Baumeisterhaus» unser Grossvater Peter Jecklin bereits im Jahr 1912. Dank seiner Weitsicht konnten unsere Väter Hans und Paul Jecklin das zu einem Musikhaus heranwachsende Pianohaus, nach einem grossen, fast existenzgefährdenden Umbau 1926 von der Häuserreihe am Obern Hirschengraben an den Zeltweg 2 verlegen.
Dieser Peter Jecklin war 1877 aus Schiers im Prättigau ins Unterland gezogen; erst als Lehrer, bis ihn die innige Liebe zur Musik weiterführte, als Organist nach Thalwil und schliesslich als Klavierlehrer an die damals noch im «Napf» an der Napfgasse 6 untergebrachte Zürcher Musikschule. Der erste Zürcher Wohnsitz seiner noch jungen Familie befand sich nicht weit vom Arbeitsort, im Haus zum Rech am Neumarkt 4. Als es dort der wachsenden Familie nach acht Jahren zu eng wurde, konnte Peter Jecklin 1893 das Haus «zum liegenden Hirschen» am Hirschengraben 10 erwerben. In jener eng aneinander geschmiedeten Häusergruppe, wo 1746 Johann Heinrich Pestalozzi geboren wurde und seine ersten Lebensjahre verbrachte, kam anno 1900 auch mein Vater Paul Jecklin zur Welt. Das parallel zur Lehrtätigkeit herangewachsene Klaviergeschäft beanspruchte mehr Raum. Dies führte 1906 zur Aufgabe der Lehrtätigkeit an der inzwischen zum «Konservatorium für Musik» an der Florhofgasse avancierten Musikschule, und in der Folge zur Ausdehnung des Pianohauses über sechs Häuser hinweg am Obern Hirschengraben 8-16 (die der Kunsthauserweiterung von 1958 zum Opfer gefallen sind).

Altstadtkinder
Mein Vater, Paul Jecklin, ist in der Altstadt aufgewachsen und hat seine Primar- und Sekundarschule bis zum Übertritt in die Kantonsschule im Wolfbach- und im Hirschengraben-Schulhaus absolviert; die Häusergruppe am Obern Hirschengraben blieb bis 1930 der Familienwohnsitz. Während der zwei Jahre Sekundarschule durfte ich im Hirschengraben-Schulhaus den Spuren meines Vaters folgen, die auch mich in die Kantonale Handelsschule führten. Einige Jahre später traf ich mich als Jungverliebter oft mit meiner späteren Frau Elisabeth in der Konditorei Schober, wo sich noch viel früher meine Eltern zum Stelldichein verabredet hatten. Der Gesang der beiden Schober-Töchter «Grüezi Herr und Frau Jecklin» ist uns noch ebenso präsent wie das Bild des gestrengen Vaters an seinem kleinen, den Überblick über das Geschehen gewährenden Schreibpult beim Durchgang vom Laden zum Teeraum mit dem in der Ecke singenden Ofen und dem grossen, mit einer Decke versehenen Tisch.
Ihren etwas anderen Gesang hat meine Frau als Elisabeth Speiser während Jahrzehnten in Zürichs Altstadtkirchen, Konzertsälen wie auch im Opernhaus erklingen lassen; so auch mit von Marc Chagall ausgewählten Mozart-Arien zur Einweihung seiner Fenster im Fraumünster.
Wie mein Vater war auch meine Mutter ein Altstadtkind. Aufgewachsen ist sie in einem der Hofhäuser an der Oberdorfstrasse 16-18. Stolz war sie nicht auf das ärmliche Heim der Familie mit fünf Kindern; verschämt nannte sie es «Dräckbödelisalp». Mit den Nachbarskindern spielte sie in unserem jetzigen Wohnhaus: im Käsekeller des Milchhändlers Banga. Am Schalter des Tagblatts nahm sie von meinem Vater die Inserate des Pianohauses Jecklin entgegen. Daraus wurde eine lebenslange Liebes- und Ehegeschichte, der auch ich mein Leben verdanke. – Dass wir nach der fast zwanzigjährigen Auszeit im Kanton Freiburg ausgerechnet gegenüber dem ehemaligen Elternhaus meiner Mutter angekommen sind, erscheint uns wie ein kleines Wunder, als ob sich damit ganz unbeabsichtigt ein Kreis über fast 150 Jahre hinweg geöffnet und geschlossen hätte. So fühlen wir uns hier in mehrfachem Sinne zu Hause und aufgehoben!

Hans Jecklin


Unser Gastschreiber
Hans Jecklin (1938) ist in Zürich aufgewachsen und besuchte die Kanti, die er 17-jährig verliess, um ins Familienunternehmen, das Musikhaus Jecklin einzutreten, dessen Geschäftsführung er mit 22 (zusammen mit seinem Cousin) übernahm. Im Jahr 2000 verkauften die beiden Cousins das Unternehmen. Elisabeth und Hans Jecklin waren bereits 1997 in ein Landhaus aus dem 17. Jahrhundert in Autigny/Fribourg umgezogen, das sich zu einem lebendigen Ort der kulturellen Begegnung entfaltete. Seit 2015 leben sie im Oberdorf. Im «Salon im Neuhaus» lädt ihre 1984 gegründete E.&H.-Kulturstiftung zu Veranstaltungen um Musik, Philosophie, Literatur und Spiritualität ein.
Foto: EM