Altstadt – eine Annäherung

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Unser Gastschreiber Bernd Steimann hat sich lange Zeit in fernen Ländern aufgehalten und lebt nun seit etlichen Jahren mit seiner Familie in der Altstadt.

Kürzlich, an der Frankengasse wars, kam ich der Altstadt wieder mal einen bedeutenden Schritt näher. Es war sicherlich nicht der Grösste in all den Jahren, seit ich hier wohne – doch bemerkenswert war er allemal. Das wurde mir allerdings erst im Nachhinein klar, als ich mich an diesen Text setzte. Bei mir dauerts halt manchmal etwas länger – genauso wie mit meiner Annäherung an die Altstadt. Aber es gab ja auch einiges zu überbrücken, zwischen der Altstadt und mir.
2006 nahm das gegenseitige Abtasten seinen Anfang. Meine heutige Frau Veronika und ich waren eben erst von einer halbjährigen Reise zurückgekehrt, da vermittelte uns ein Freund eine hübsche Dreizimmerwohnung am Hechtplatz. Ohne lange zu fackeln sagten wir zu und fanden uns unverhofft in den engen Altstadtgassen wieder. Dabei hatten wir uns unterwegs gerade so schön an die Weite gewöhnt: An den hohen Himmel über Sibirien, die menschenleeren Steppen Zentralasiens oder die epischen Landschaften Ostanatoliens. Immerhin gabs nun freien Blick auf den Üetliberg, und unsere Haustür führte auf die Weite Gasse.

In die weite Steppe
Vielleicht war die plötzliche Enge mit ein Grund, weshalb ich mich kaum zwei Monate nach dem Einzug für eine Forschungsstelle in Kirgistan entschied. Nachdem ich bereits früher im Tien Shan gearbeitet hatte, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, die jüngere Geschichte dieser ehemaligen Sowjetrepublik zu erforschen. So pendelte ich die nächsten drei Jahre zwischen Altstadt und Hochweiden, zwischen mittelalterlichen Gemäuern und mobilen Filzjurten, zwischen Vohdin-Gipfeli und gefülltem Schafsmagen. Nach mehreren Monaten unterwegs kam ich stets gerne zurück, freute mich aber auch bald schon wieder auf die nächste Forschungsetappe im Gebirge. Veronika arbeitete derweil als Tierärztin im Glarnerland und sah die Altstadt ebenfalls nur spätabends oder am Wochenende.
Unser anfängliches Verhältnis zum Dörfli wäre also arg distanziert geblieben, hätte Hansruedi Heller, unser damaliger Vermieter und Nachbar, nicht allwöchentlich zwischen Tür und Angel eine seiner zahllosen Geschichten zum Besten gegeben. Ging es dabei nicht gerade um seine Abenteuer als Smutje auf hoher See, so fand sich in seinem enzyklopädisch anmutenden Erinnerungsschatz stets eine Anekdote über denkwürdige Ereignisse oder längst vergessene Gestalten aus der Nachbarschaft. So näherte ich mich dem Oberdorf zumindest aus lokalhistorischer Warte langsam aber stetig an.

Im Eiltempo sozialisiert
Keine 24 Stunden nach Abgabe meiner Doktorarbeit kam Niklaus zur Welt. Dass sich dadurch nicht nur unser Leben, sondern insbesondere auch unsere Beziehung zur Altstadt grundlegend verändern würde, konnte ich damals noch nicht ahnen. Fast unmerklich aber begannen sich die Gassen und ihre heutigen BewohnerInnen mit unserem Alltag zu verweben. Aufs Mal kam ich mit Menschen ins Gespräch, deren Anwesenheit ich zuvor kaum bemerkt hatte, obschon sie keine zwanzig Meter neben uns wohnten. Das änderte sich erst recht, als wir ein Jahr später die Trittliwiese für uns entdeckten – und überrascht feststellten, dass es in der Altstadt ja noch andere Familien mit Kindern gibt.
Dass es noch viel mehr waren, wurde mir endgültig klar, als ich an Niklaus’ erstem Chindsgitag auf all die zappelnden Kinder und Jugendlichen blickte, die vor dem Schulhaus Hirschengraben darauf warteten, ihre Ballone fliegen zu lassen. So viele hatte ich beim besten Willen nicht erwartet! Und plötzlich gings ruckzuck: Elternabend, Kindergeburtstag, Trittliwiesenfest, Besuchstag, Chlausbesuch, Spielnachmittag, WM-Garage, Kerzenziehen, Räbeliechtli – und schon waren wir mittendrin und rundum sozialisiert. Unser gesellschaftlicher Dörfli-Radius weitete sich innert weniger Wochen um ein Vielfaches aus. Und es fühlte sich gut an.

10 Minuten statt 5000 Kilometer
Mittlerweile hatte sich auch mein Arbeitsweg um einige tausend Kilometer auf zehn Minuten Fussweg verkürzt.
Bei der Entwicklungsorganisation Helvetas, gleich oberhalb des Centrals zu Hause, übernahm ich die Leitung der politischen Arbeit. Das war (und ist) zwar noch immer mit einigen Reisen verbunden, doch auch thematisch näherte ich mich meinem Wohnort mehr und mehr an. Statt mit den Herausforderungen der postsozialistischen Transformation im fernen Zentralasien beschäftigte ich mich nun vermehrt mit Fragen der heimischen Politik: Wie vermeiden wir Kürzungen beim Schweizer Entwicklungsbudget? Was braucht es, damit sowohl die Schweizer Armee als auch Gemeinden wie Zürich fair und umweltbewusst einkaufen? Was tun gegen Schweizer Waffenexporte in Bürgerkriegsländer? Statt mit von Wind und Wetter gegerbten kirgisischen Hirten hatte ich es nun auf einmal mit krawattierten Nationalräten zu tun; statt in einer nach Schafbock riechenden Filzjurte fand ich mich plötzlich in einer Anhörung der städtischen Finanzkommission wieder.
Die räumliche Nähe zwischen Arbeits- und Wohnort lernte ich rasch schätzen. Heute bin ich auf dem Heimweg durch die Gassen dankbar dafür, dass der Lohn nicht mehr in der Tüte ausbezahlt wird. Mein Zahltag würde es sonst kaum je über die Froschaugasse (Comicladen) hinausschaffen – und wenn doch, verflüchtigte er sich spätestens bei der Spiegelgasse (Schwarzenbach) oder Anfang Oberdorf (Rien ne va plus).
Und dann, kürzlich an der Frankengasse, verkürzte sich auch die thematische Distanz nochmals spürbar: Eher spontan begab ich mich zur Gründungsversammlung eines lokalen Unterstützungskomitees für die Konzernverantwortungsinitiative – und fand mich unvermittelt in einer ansehnlichen Gruppe politisch motivierter AltstadtbewohnerInnen wieder, denen Menschenrechte und Umweltschutz am Herzen liegen.
Mit der Initiative beschäftige ich mich beruflich schon seit mehreren Jahren, doch nun ist das Thema auch in meiner unmittelbaren Nachbarschaft angekommen. Und es fühlt sich gut an.

Bernd Steimann

Unser Gastschreiber
Bernd Steimann (1977) ist in Männedorf aufgewachsen und besuchte die Kanti Küsnacht. So entdeckte er die Stadt erst während seines Geografiestudiums, als er in eine WG an der Nordstrasse zog. Nach mehrjähriger Forschungstätigkeit in Pakistan und Kirgistan wechselte er 2011 zu Helvetas, wo er seither die entwicklungspolitische Arbeit im In- und Ausland betreut.
Zusammen mit Veronika, Niklaus und Laurenz lebt er seit mittlerweile dreizehn Jahren im Oberdorf. Obschon ein ausgesprochener Freund von Schnee und Eis, erliegt er doch jeden Frühling stets aufs Neue dem unwiderstehlichen Charme der blühenden Trittliwiese.
Foto: EM