Die verborgenen Gärten

Alice Vollenweider, die bekannte Romanistin und Kochbuchautorin ist die Gastautorin unserer Juni-usgabe.

Als ich anfangs der Fünfzigerjahre an der Zürcher Uni Romanistik zu studieren begann, wurde für mich die Zentralbibliothek unversehens zur provisorischen Heimat und in der Folge habe ich viel Zeit im alten Lesesaal mit seinem schönen holzgeschnittenen Interieur verbracht. Viel mehr Zeit als in den Hörsälen der Uni oder in meinem Zimmer an der Trittligasse bei den Diakonen, wo es eine Stuckdecke und einen grossen blauweissen Kachelofen gab. Und einen von der Strasse aus unsichtbaren Garten mit Blumen, Rasen und einem kleinen Apfelbaum. Bald kam als dritter Lebensort die «Züribar» dazu, damals eines der seltenen Cafés, wo man einen kräftigen Espresso bekam. Das haben uns die Tessiner Kollegen verraten. Sommer und Winter sassen wir in der verrauchten Bar und fühlten uns mitten in der braven Zwinglistadt den Pariser Existentialisten verwandt.
Wir waren gegenüber allem, was uns geboten wurde, ziemlich kritisch und überzeugt, dass die Welt für uns offen war. Sartre stand uns näher als Max Frisch. Und manchmal spielten wir mit dem Gedanken, den akademischen Leerlauf aufzugeben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Für diese Eventualität planten wir eine Espresso-Bar mit ausländischen Zeitungen, ein Projekt, das wenig Arbeit und viel Geld versprach. Dass wir den Sprung von der Theorie ins Barleben nicht geschafft haben, lag wohl daran, dass wir der Zeit voraus waren. Andere haben das später realisiert; heute gibt es ja in der ganzen Stadt kein Lokal mehr ohne Espressomaschine.
So haben wir unser Studium abgeschlossen und dann weiter gesucht. Ich in Frankreich, Italien und später wieder in Zürich als Journalistin im Gebiet der italienischen Literatur. Wo auch die italienische Küche eine Rolle spielt: denn mit italienischen Autoren und Autorinnen, Journalisten, Bibliothekaren, Gelehrten oder auch Zufallsbekanntschaften im Zug kommt man unweigerlich früher oder später auf die grossen Themen des Essens und des Kochens zu reden. Die «culture matérielle» begann mich in meinem Haushalt und in meiner Arbeit zu interessieren; daraus entstanden Freundschaften und Kochbücher, die mir das Leben leichter machten.

Bücher und Zeitungen
Viele Jahre wohnte ich im Kreis 4, dem Eldorado der Cucina mediterranea, und wäre noch heute dort, wenn ich vor fünfzehn Jahren nicht eine Wohnung in der Altstadt gefunden hätte, nur zwei Minuten von der Zentralbibliothek entfernt. Eine Art Rückkehr in die alte Bücherheimat. Da liess ich meinen Brockhaus zusammen mit anderen Büchern vom Antiquar abholen und benütze seither die Nachschlagewerke der ZB. Bei den Büchern, die ich manchmal auch zum Mitnehmen bestelle, staune ich immer wieder über die Freundlichkeit der Bibliothekare. Sie sind so hilfsbereit, dass ich darauf verzichtet habe, das Computer-Bestellsystem zu begreifen und mich an den Tisch setze, wo man ohne lange Wartezeit einen Lotsen im Büchermeer findet. – Von den Büchern in der ZB ist es nicht weit zu den Zeitungen: man muss nur den Zähringerplatz mit seinen prächtigen Platanen überqueren, um am Kiosk des «Marion» in- und ausländische Zeitungen zu kaufen, und zwar nicht nur während der Woche, sondern auch an Sonn- und Feiertagen. Auch das Bistro ist ohne Ausnahme das ganze Jahr offen, was dieser Altstadtecke mitten in Zürich einen Hauch von Weltstadt gibt. Kein Wunder, dass es hier nicht nur viele Stammkunden
gibt, sondern am Wochenende auch einen Stammtisch, wo diskutiert oder in den herumliegenden Zeitungen gelesen wird.
Trotz der Menschenmenge, die sich bei schönem Wetter und bei Regen durch die Niederdorfstrasse drängt, lernt man sich in diesem Quartier rascher kennen als anderswo. Das liegt an der Kleinräumigkeit der alten Gassen, Häuser und Wohnungen. Hier begegnet man den Nachbarn, hört ihre Kinder im Innenhof spielen und durch die offenen Fenster sieht man bekannte Unbekannte auf der andern Seite der Gasse vor dem Fernseher sitzen und Bier oder Wein trinken. Für Supermärkte gibt es hier keinen Raum; sogar die neue Migros an der Mühlegasse ist so klein geraten, dass sie kaum ins Gewicht fällt. Uns genügen ja Nanopoulos, Helen Faigle und der «Chäs-Chäller». Und von Zeit zu Zeit ein neuer Schuhladen.

Verborgene Schönheit
Jetzt im Sommer erblüht im Niederdorf die Schönheit der verborgenen Gärten, von denen die Passanten auf den Gassen keine Ahnung haben. Da gibt es moosbewachsene Terrassen zwischen zwei Hausfassaden, kleine Balkone, von Geissblatt oder wildem Wein überwachsen und zuoberst Zinnen mit Drähten für die Wäsche, neben Flieder, Sonnenblumen und Tomaten. Da verwandeln sich Städter in passionierte Gärtner, die für ihre Rosen den perfekten, feuchten Kompost gratis dort holen, wo er von der Kompostgruppe des Quartiers gepflegt wird. Ein stimmungsvoller Ort an der Winkelwiese, direkt gegenüber dem klassizistischen Hof der Villa Tobler. Unter schattigen Bäumen öffnet man nacheinander zwei Eisentore und dann links die Tür zum Kompost-Areal, wo Küchen- und Gartenabfälle aus der Altstadt sich im Lauf der Monate in kostbare Kulturerde verwandeln. Irgendwo steckt eine Gabel im Gras, und weiteres Werkzeug findet man in einer Blechwanne. Alles unverschlossen, alles gratis und alles von Freiwilligen betreut, zum Wohl der Hobby-Gärtner.
Meine Freundin aus Florenz staunt über so viel Gemeinsinn, und ihr Sohn, der zu den italienischen Grünen gehört, möchte am liebsten nach Zürich auswandern. Ich kann ihn verstehen.

Alice Vollenweider


Unsere Gastschreiberin
Alice Vollenweider wurde in Zürich geboren, wo sie Romanistik studierte und eine Dissertation über den «Einfluss der italienischen auf die französische Kochkunst im Spiegel der Sprache» schrieb. Nach Aufenthalten in Paris und Neapel begann sie für die NZZ literaturkritische Aufsätze zur zeitgenössischen Literatur Italiens zu schreiben. Daneben übersetzte sie Werke von Eugenio Montale, Natalia Ginzburg und Giacomo Leopardi.
Gleichzeitig vertiefte sie auch ihre praktischen Kenntnisse der italienischen Küche, eine Beschäftigung, aus der Kochbücher mit Rezepten und Geschichten entstanden. – Sie hat immer in Zürich gelebt, unterbrochen von langen Aufenthalten in Italien und im Tessin. Seit fünfzehn Jahren wohnt sie in der Altstadt. – Soeben ist ihr neues Buch beim Limmat-Verlag erschienen: «Frischer Fisch und wildes Grün. Essen im Tessin».