Mit offenen Ohren

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Unsere Gastschreiberin Hanna Jud lebt und arbeitet seit Jahrzehnten in der Altstadt. Töne, Klänge, Rhythmen haben sie schon früh interessiert. Sie haben sie auch beruflich begleitet.

Als seltenes Privileg durften wir Kinder manchmal den Mittagsschlaf im Bett unserer Eltern verbringen. Ich bin mit meinen drei Geschwistern in einem alten Fachwerkhaus in einer Vorortsgemeinde von Zürich aufgewachsen. Um die Deckenlampe tanzte dann jeweils ein kleiner Mückenschwarm und der Wecker neben dem Bett tickte unüberhörbar sein endloses tick-tack, tick-tack, was zwar lustig, aber keinesfalls schlaffördernd war. Unversehens veränderte sich der Rhythmus und der Schwerpunkt verlagerte sich zu tack-tick, tack-tick oder wandelte sich zum Dreitakt tick-tack-tack, tick-tack-tack mit allen Varianten bis tackedidack-tick, tackedack-tick usw. Immer begleitet vom Tanz der Mücken.
Minimalmusik für Kinder? Als solche konnte ich das damals jedenfalls noch nicht erkennen, das Prinzip der repetitiven und verschobenen Rhythmen aber hat sich mir eingeprägt.

Spuren zum Grossmünsterstift
Der Hof «Chüelebrunne», mein Elternhaus, wurde im 18. Jahrhundert vom Grossmünsterstift an meine Vorfahren als Erblehen verkauft. Das Grossmünster war nach der Reformation das einzige Kloster der Stadt, dessen Besitztümer und Ländereien vom Staat nicht eingezogen, sondern weiterhin von den «Pflegeren und vom Capitol des ehrenwerten Stiftes» verwaltet wurden.
Der Kaufbrief vom 24. April 1787 nennt neben dem Kaufpreis in Gulden (damaliger Verkehrswert) ein jährlich zu entrichtendes Pfrundgelt mit Naturalabgaben wie Kernen, Haber und Heugeld an die Tragereien (regionale Zinseintreiber) sowie eine Abgabe an das Almosen Amt Zürich.  Die spätmittelalterliche Erbleihe hat sich später dem freien Grundeigentum angenähert und wurde 1867 generell gelöscht. Meine Familie wurde damit offiziell Besitzerin des Hofes und hat auf diese Weise sozusagen schon seit Generationen einen Bezug zur Altstadt.

Öffnung des Kulturbetriebs
Im Kindergarten erhielt ich den ersten Rhythmik- und Musikunterricht, erst Flöte, dann Klavier. Jeden Samstag kam unser Fräulein Klavierlehrerin mit ihrem blauen VW Käfer bei uns zu Hause vorbei und unterrichtete freundlich und geduldig ein Kind nach dem andern. Mein Höhepunkt der Woche. Wir vier Geschwister machten ganz ordentlich Hausmusik mit Cello, Geige, Flöte und Klavier – aktiv dabei blieb ich als Einzige und wählte auch beruflich diesen Weg. Das Rhythmikstudium an Konservatorium und Musikhochschule war dann eine natürliche Folge.
In die Zeit meiner Ausbildung fiel auch die Öffnung des Musik- und Kulturbetriebs in Zürich. Für mich ein echter Glücksfall. Christoph Vitali war damals Kulturverantwortlicher der Präsidialabteilung. Seine wegweisenden Impulse setzten wichtige Akzente für eine weltoffene Kulturstadt Zürich. Neben prägenden Theateraufführungen im Stadthof 11 wurden Schlüsselwerke der zeitgenössischen Musik aufgeführt. Die «Thearena» mit Ateliers, Werkstätten und Veranstaltungen nahm in der Roten Fabrik den Betrieb auf und im Kunsthaussaal gastierten namhafte Musiker und Tänzer mit neuartigen Konzepten. An der Pfauenbühne wurde mit Schauspielern, Kunstschaffenden, Musikern und Publikum diskutiert. Strassen und Gassen wurden als Aufführungsorte neu entdeckt. Die besondere Akustik beim Helmhaus zieht nach wie vor Musiker jeder Couleur an.
Im Rahmen der «Thearena» konnte ich frisch ab Diplom ohne jegliche Bürokratie zusammen mit einer Kollegin «Experimente mit Musik und Bewegung» als offenen Kurs für Erwachsene und Kinder anbieten. Für mich ein idealer und prägender (auch etwas kühner) Einstieg ins Berufsleben. Die Impulse aus dieser Zeit begleiteten mich nachhaltig während meiner verschiedenen Unterrichtstätigkeiten unter anderem an Musikschulen und Fachhochschulen.
Mit der Eröffnung des Ateliers für Musik und Bewegung (2004) an der Schlossergasse ging dann ein jahrelanger Wunsch in Erfüllung und ich erhielt eine wunderbare Gelegenheit, meine persönlichen Schwerpunkte für ein lebendiges und kreatives Arbeiten mit Musik und Bewegung zu realisieren.

Seit vierzig Jahren in der Altstadt
Seit nun rund vierzig Jahren wohne und arbeite ich an verschiedenen Orten und in verschiedenen Konstellationen in der Altstadt. Meine beiden Kinder sind hier aufgewachsen.
Mein Mann Peter und ich geniessen die Nähe zu Theater, Oper und Konzerthäusern und wir nehmen rege Anteil am Kulturleben. Museen, Lesungen, Theater, Konzerte, Kino, Galerien befinden sich quasi vor der Haustüre. Zum Ausklang auf dem Heimweg noch einen Schlummertrunk am Neumarkt.

Eile mit Weile für die Ohren
Meine Ohren sind nach wie vor neugierig auf die Geräuschkulissen. Die Höreindrücke verweben sich zu spannenden Klangteppichen. Sie reichen vom Vogelgezwitscher bis Lieferwagengebrumm, Stöckelschuhgeklapper bis Kindergeschrei. Vom Rollkoffergeratter bis zum plätschernden Brunnen und vom Kirchengeläut bis zum Technosound usw. Wird es ohrenbetäubend, helfen kurzfristig Ohropax oder die Flucht an einen ruhigen Ort. Der Reiz am ständigen Tragen von iPod-Kopfhörern mit Non-stop-Berieselung bleibt mir eher verschlossen.
Hier mein Tipp für ein Hörexperiment unplugged (wörtlich ohne Stöpsel): Während einer Minute mit geschlossenen Augen einfach dasitzen und den Umgebungsgeräuschen lauschen. Alle Höreindrücke sammeln (ohne Wertung) und anschliessend auf ein Blatt notieren und eventuell noch mit Zeichen versehen wie laut–leise, kurz–lang usw. Die Partitur steht nun vor Ihnen. Das Experiment kann zu verschiedenen Tages- oder Nachtzeiten wiederholt werden.
Imitieren Sie das Gehörte mit der Stimme oder auf Tischen, Tellern und Gläsern, Kartonschachteln usw. Kann auch auf Rhythmus- und Klanginstrumente übertragen werden.
Viel Spass bei der Hausmusik.

Hanna Jud


Unsere Gastschreiberin
Hanna Jud (1952) ist aufgewachsen in Zumikon. Nach einer KV-Lehre liess sie ein Rhythmikstudium an Konservatorium und Musikhochschule Zürich folgen. Sie arbeitete an verschiedenen Fachhochschulen und Musikschulen als Dozentin für Musik und Bewegung und leitete eine öffentliche Musikschule. 2004 eröffnete sie das «Atelier für Musik und Bewegung» an der Schlossergasse im Oberdorf, dessen Leitung sie demnächst an ihre langjährige Kollegin Darja Tempest übergeben wird.
Sie lebt seit vierzig Jahren in der Altstadt, ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder, von Marius und Maya Wolfensberger, und zweifache Grossmutter.    Foto: EM