Ein Arbeitstag in der Altstadt

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Unsere Gastschreiberin Clare Meier schildert eine Begegnung mit einem in der Altstadt aufgewachsenen Künstler, der sie sehr beeindruckt hat.

Als ich heute Morgen am Paradeplatz aus dem Tram aussteige, lasse ich mich nicht wie sonst von meinen Gedanken tragen, sondern nehme meinen Arbeitsweg durch die Altstadt bewusst wahr. Ich schlängle mich an Kunstfellmänteln vorbei Richtung Münsterhof. Der Platz ist an diesem Morgen fast leer, da ein bissiger Wind weht.
Ich erinnere mich an eine Kunstinstallation des Berner Oberländer Künstlers Heinrich Gartentor, welche im August hier ausgestellt war. Verrückt, wie der Platz während mehrerer Wochen durch eine blühende Wiese zu einer einladenden Oase wurde. Dass man einzelne Stücke der Wiese erwerben konnte, habe ich erst später erfahren. Eine wunderbare Idee, dass die Pflanzen an verschiedenen Orten weiter gedeihen. Schwer vorstellbar, dass der Platz vor nicht allzu langer Zeit ein «Autofriedhof» war.

Künstler zu Besuch
Ich biege links ab und spaziere gemütlich den Fluss entlang. Nach einem Zwischenhalt im «Saftlade» an der Münstergasse und einem Getränk aus Roter Bete und Rüebli bin ich bereit für meinen Arbeitstag in der Galerie S. Brunner. – Kürzlich war der Zürcher Künstler Kurt Haas zu Besuch in der Galerie. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich einige Bilder von ihm gesehen und über ihn gelesen. Persönlich kannte ich ihn nicht. Seine poesievollen Bilder haben es mir von Anfang an angetan. Farbenkräftig und an tribalistische Kunst erinnernd, entdecke ich immer wieder Neues in seinen Bildern.
Der lebhafte, humorvolle Mann war mir auf Anhieb sympathisch. Schwer beladen mit Prospekten begleitete ich ihn nach der Besprechung in der Galerie zur Tramhaltestelle. Wir liefen durch die Gassen und Kurt erzählte mir aus seinem Leben in der Altstadt. Aufgewachsen sei er an der Zähringerstrasse. Seine Eltern hatten an der Froschaugasse einen Trödlerladen besessen. «Heute würde man den als Secondhandladen bezeichnen», fügte er lächelnd hinzu. In welchem Jahr das gewesen sei, wollte ich wissen. Er meinte, dass seine Mutter den Laden bereits vor seiner Geburt gehabt hätte. Kurt kam 1935 zur Welt. Ich war begeistert von seinen Geschichten, wer wo welches Geschäft geführt hatte. Es gibt von der Froschaugasse abzweigend die Synagogengasse, erzählte er mir. Die war mir bis jetzt nicht aufgefallen und ich spähte neugierig hinüber. Die Froschaugasse sei früher eben auch Judengasse genannt worden, meinte er. Weshalb, wusste er nicht mehr. Wie verträumt und ruhig das Dörfli wirkte, wie eine Insel. Meine Gedanken kehrten zurück zur schönen Blumenwiese auf dem Münsterhof.
Einmal pro Woche komme er noch in die Altstadt. Er müsse die Froschaugasse einfach hinunter- oder hochspazieren. Vieles habe sich verändert im Laufe der Zeit, meinte er, aber der Brunnen zum Beispiel, von dem man als Kind Wasser getrunken habe, sei noch da. Er erzählte mir von den Waschhäusern in den Innenhöfen und dass sie als Kinder da oft durch die Höfe zu den Nachbarn rübergeklettert waren.

Zu malen begonnen
Der Wind blies uns um die Ohren und Kurt Haas berichtete mir weiter aus seinem Leben. Ich fragte ihn, wann er sich entschieden hatte, Künstler zu werden. Ja, sagte er laut und seine Augen fingen an zu leuchten, er habe immer gerne Fussball gespielt. Die Altstadt habe aber keinen Fussballplatz gehabt. Gleichzeitig habe er schon immer Interesse an der Malerei gehabt und Ausstellungen besucht und Bücher angeschaut. Als er sich beim Fussball eine Knieverletzung geholt habe und nicht mehr Fussball spielen durfte, habe er mit Zeichnen und Malen angefangen. Er war damals bereits 35 Jahre alt.
Der Galerist Balz Hilt hätte ihn an der Ausstellung für Zürcher Künstler in den Züspa-Hallen entdeckt. Er habe seine Sache durchgezogen, lachte er. Silvia und er hatten zu jener Zeit vier Kinder und es sei finanziell nicht immer einfach gewesen. Zu Beginn habe er halbtags gemalt und mit der Zeit wurde es immer mehr. Ausstellungen im Ausland kamen hinzu. Auch waren seine von Fabelwesen bevölkerten Bilder 1975 im Kunsthaus Zürich ausgestellt. Ob er sich von der Altstadt habe inspirieren lassen, wollte ich wissen. Nein, antwortete er, er lege einfach los, mache einfach. «Feel free, do something» laute sein Credo. Sein Schaffen sei spontan und er schöpfe aus seinem Inneren, aus dem Unterbewussten. Als Mediale Malerei wurden seine Werke beschrieben. Er sei froh darüber, dass er nie eine Kunstschule besucht habe. Er wolle nicht so malen wie sein Lehrer, meinte er lachend.
Inzwischen sind wir an der Tramhaltestelle angekommen. Kurt Haas hat an vielen Orten gewohnt, aber die Altstadt sei halt schon etwas Besonderes. Seine Frau Silvia Landolt und er waren einige Zeit sogar mit einem Hausboot unterwegs. Auf Wasserwegen durchquerten sie Frankreich, Deutschland, Holland und Belgien.
Heute wohnt Kurt Haas mit seiner Frau im Altersheim an der Quellenstrasse. Es sei toll im Altersheim, er verstehe nicht, wenn Leute sich davor fürchteten. Es gäbe ein grosses Angebot an Aktivitäten, Theater und Konzerten. Ob er noch immer zeichne und male? Ja, zeichnen tue er noch jeden Tag.
Das Tram fuhr vor. Schnellen Schrittes lief ich durch die Altstadt zurück in die Galerie. Was für ein toller Arbeitsort, umgeben von so viel Geschichte! Alte Häuser, kleine Handwerkerläden, versteckte Innenhöfe. Ein Ort, an dem die Zeit langsamer zu fliessen scheint als in der restlichen Stadt.
«Joy of life for ever / day for day / ever» lese ich später auf einem seiner Bilder und bin dankbar für diese wunderbare Begegnung.

Clare Meier

Unsere Gastschreiberin
Clare Meier (1978) ist auf dem Land aufgewachsen, in den Kantonen Zug, Luzern und Zürich. In Baar besuchte sie die Steiner-Schule und anschliessend die Kunstgewerbeschule in Luzern, an der sie Textildesign studierte. Parallel zum Studium arbeitete sie in einem Cateringbetrieb in der Küche und führte Anlässe durch. Nach dem Studium baute sie mit Partnern ihren eigenen Cateringbetrieb auf und war zwölf Jahre im Cateringbereich tätig. Seit einem Jahr ist sie bei der Galerie S. Brunner tätig: Sie führt das Geschäft und kuratiert die Ausstellungen. – Vor fünfzehn Jahren zog sie nach Zürich, wo sie mit ihrem Partner und ihrem anderthalbjährigen Sohn lebt.

Foto: EM