Städter im Dorf

Trotz der grünen Welle bleibt das Wohnen zu anständigen Preisen das wichtigste politische Thema in dieser Stadt. Deshalb macht es Sinn, sich in dessen historische und psychologische Hintergründe zu vertiefen.
Eigentlich leben wir Städter – schon gar im Kreis 1 – ja alle in Dörfern: im zurzeit vorweihnachtlich terrorisierten Niederdorf und Oberdorf, in Hottingen, Aussersihl, Witikon…
Idealisten haben am Stadtrand eigene «Dörfer» errichtet, zum Beispiel die seit 2010 denkmalgeschützte Werkbundsiedlung Neubühl in Wollishofen, die in den Dreissigerjahren noch weit vom Zentrum entfernt war. Der Fussmarsch zur Endstation der Tramlinie 7 betrug zwölf Minuten, bei flottem Schritt.
Das Neubühl war und ist ein Zürcher Baudenkmal, geboren aus dem Geist des neuen Bauens und des Bauhauses. «Negerdörfli» haben sie gehöhnt, die stolzen Innenstädter. «Barackensiedlung!» Die Flachdächer, die grossen Glasfronten, die freie Sicht von aussen in die Innenräume, das alles mutete fremd an. Kurt Guggenheim (1896-1983), der Chronist des modernen Zürich, hat Aaron Reiss, einen seinen Helden, ins Neubühl ziehen lassen, wo die Menschen freier miteinander umgingen und wo zwar der Mittelstand wohnte (wegen der durchaus nicht arbeiterfreundlichen Mieten), wo aber der Charakter der Bauten ein eigenes und für das damals bigotte Zürich verdächtiges Nachbarschaftsleben ermöglichte.
Seit Ende November gibt es nun ein grosses Buch über das Neubühl, das ein Zeit- und Sittenbild des mehr oder weniger bürgerlichen Zürich darstellt*. Fünf Jahre lang hat der Historiker Emanuel La Roche daran gearbeitet und mitten ins pralle Leben gegriffen. Das Archiv der Baugenossenschaft ist unerschöpflich und ein Spiegel des Lebens. Wie verhielten sich die Menschen in der Krise? Wie waren sie zu den (vorwiegend jüdischen) Flüchtlingen, die damals im Neubühl Aufnahme fanden? Wie kamen die zumeist bürgerlichen Nonkonformisten, welche im «Dorf vor der Stadt» wohnten, mit dem hämischen Gerücht zurecht, sie lebten in einem «Juden- und Kommunistennest»?
Das Buch spiegelt die Wohnwirklichkeit Zürichs in den Epochen von Krise, Weltkrieg, Hochkonjunktur und Neuzeit. Und nicht zuletzt den Genossenschafter-Alltag mit seinen Sorgen um den Radiolärm der Nachbarn und der speziellen Haustierkommission. Regula empfiehlt dieses neue Zürich-Buch dringlichst; es ist nicht nur interessant, sondern stellenweise so spannend wie das Alltagsleben!

Regula

*Emanuel La Roche: Im Dorf vor der Stadt. Die Baugenossenschaft Neubühl, 1929-2000, Chronos Verlag Zürich, 48 Franken.