Erinnerungen an den Schulweg

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Unser Gastschreiber Benjamin Jermann ist in der Altstadt aufgewachsen. In seinem Beitrag blickt er zurück auf Kindheit und Jugend, die er da verbrachte – anhand seines Schulwegs.

Ein Vierteljahrhundert habe ich in der Zürcher Altstadt gelebt, bis ich schliesslich 2017 mit meiner Partnerin in Wollishofen zusammengezogen bin. Die Anfrage des Altstadt Kuriers für diesen Artikel hat in mir entsprechend viele Erinnerungen wachgerufen. Ich will mich hier auf jene beschränken, die sich in einem ganz bestimmten engen geographischen Raum abgespielt haben: meinem Schulweg. Dieser führte von der Brunngasse über die Froschaugasse und den Neumarkt rauf bis zum Seilergraben 1. Von dort ging es dann je nach Lebensphase unterschiedlich weiter. Diese Strecke von knapp 300 Metern legte ich schätzungsweise über 2600 Mal zurück. Zusammen mit dem Heimweg sind das fast 1500 Kilometer Altstadt, oder in etwa die Strecke von Zürich nach Wien und zurück. Dieser kurze Weg enthielt für mich ein ganzes Universum. Neulich habe ich die Gelegenheit ergriffen, ebendiese Strassen genauso wieder abzulaufen.

Knarrende Fussböden
Die erste Station ist die Brunngasse 6. Dort im zweiten Stock bin ich als Einjähriger mit meiner Familie eingezogen. Die Wohnung war 21 Jahre mein Zuhause und ich kann mich noch ganz genau daran erinnern. Das erste Geräusch, welches mich am Morgen begrüsste, war das Knarren des schönen Fischgrätenparketts. Oder allenfalls die Schritte der Nachbarsfamilie im oberen Stock. – Das Haus war ringhörig. Das störte mich nicht, denn es vermittelte mir Geborgenheit und ein Gemeinschaftsgefühl. Der Fussboden war dermassen schräg, dass die chinesischen Qigongkugeln meines Bruders durch reine Gravitationskraft durchs Zimmer rollen konnten und dabei so viel Tempo aufnahmen, dass die unvermeidliche Kollision mit der gegenüberliegenden Wand ganz schön Krach verursachte. Zusammen mit meinen zwei Brüdern und unserem vereinten Freundeskreis hinterliessen wir zahlreiche Spuren am wunderschönen Täfer. Diese kleinen Mängel gehörten für uns zum «Dörfli» und zeugten davon, dass hier nicht nur gewohnt, sondern in vollen Zügen gelebt wurde.
Die Altstadt war alles andere als anonym, man kannte sich, suchte den Kontakt und es gab viele Feste in den Gassen, Wohnungen und Dachterrassen. Das ist bis heute so.

Mit Liebe und Hingabe
Mein Spaziergang führt mich durch die Brunngasse und bald nach rechts in die Froschaugasse, benannt nach dem Buchdrucker Christoph Froschauer. Kurz vor Ende der Froschaugasse liegt nach wie vor ein kleines Geschäft, das ich als Gymnasiast und später als Student oft aufsuchte: der «Notenpunkt». Darin zu finden sind alle möglichen Musiknoten und Bücher über Musik. Als ich mit zunehmender Ernsthaftigkeit Klavier zu spielen begann und schliesslich ein Klavierstudium an der Zürcher Hochschule der Künste aufnahm, wurde der «Notenpunkt» für mich zu einem Ort des Staunens und Träumens. Dort werden jedoch nicht nur Schätze der abendländischen Musik (und auch vieler anderer Musik) angeboten, sondern auch «Konzerte nach Ladenschluss» veranstaltet. An einem solchen Anlass gab auch ich mit einem Cellisten ein Konzert mit zwei Cellosonaten von Beethoven.
Ich freue mich, dass der «Notenpunkt» im Zuge der Digitalisierung und des Online-Handels gegen Giganten wie Amazon und E-Bay bestehen kann. Es braucht solche kleinen Geschäfte, die mit viel Liebe und Hingabe das Stadtbild beleben und den «Dörfligeist» erhalten.
Mein ehemaliger Schulweg führt mich weiter nach links in den Neumarkt, vorbei am Nike-Brunnen. Dieser erhielt seinen Namen nicht wegen der Schuhmarke, welche die Altstadt im Eilzug zu erobern scheint – und dabei eben jene einzigartigen kleineren Geschäfte verdrängt. Früher, noch vor meiner Geburt, stand auf dem Brunnen eine Jupiter-Statue, welche aber in einem Anschlag gesprengt wurde. Sie wurde ersetzt durch eine moderne Adaption der griechischen Göttin Nike. Diese Göttin des Sieges wachte über uns, wenn wir als Kinder an heissen Sommertagen eine Abkühlung suchten.
Ich gehe den Neumarkt hinauf, am städtischen Kindergarten vorbei, den ich als Kind besuchte und an dessen Innenhof mit Apfelbaum ich mich noch vage erinnern kann. Daneben liegt übrigens die Praxis meines Zahnarztes, in dessen Wartezimmer ein wunderschöner Pleyel-Flügel steht. Ich freue mich auf jede Zahnkontrolle, weil ich davor auf dem antiken Instrument spielen kann.
Die Strasse wenige Schritte rauf, beim Neumarkt 10, verbrachte ich mein erstes Jahr auf dieser Welt. Dort im zweiten Stock wurde ich am 12. Dezember 1992 an einem Samstagnachmittag um 16.15 Uhr geboren. Damals schlossen die Geschäfte schon um 16 Uhr. Auf den Strassen war Ruhe eingekehrt. Eine Kerze im Fenstersims kündete von meiner lautstarken Ankunft in der Altstadt.

«Dörfligeist»
Ich bin beim Seilergraben 1 angekommen. Vor einigen hundert Jahren wäre ich vor dem «Neumarkt-Tor» gestanden, durch das ich die Stadt verlassen hätte. Heute gibt es dort natürlich kein Tor mehr, sondern nur eine Lichtampel, die für die Fussgänger immer viel zu schnell auf Rot schaltet. Doch für mich als Kind war die Überquerung der Strasse ein Schritt in die weite Welt hinaus.
Mit der Zeit wurde mein Radius, in dem ich mich täglich bewegte, immer grösser. Auf die Primarschule Hirschengraben folgten die Kantonsschule Rämibühl und schliesslich das Konservatorium – die Zürcher Hochschule der Künste ZHdK. Ich bin froh, meine Studienzeit im schönen Haus an der Florhofgasse begonnen zu haben. Es war klein, aber dadurch und mit seiner Nähe zur Altstadt auch sehr einladend. Schon bald dislozierte die ZHdK jedoch ins Toni-Areal, das auf den ersten Blick mit seiner enormen Grösse vielleicht etwas abschreckend wirken kann. Im Nachhinein empfinde ich diesen Umzug als ein sehr gelungenes Unterfangen. Noch heute entdecke ich neue Facetten an der ehemaligen Joghurtfabrik und fühle mich dort wohl.
Zürich wird immer grösser. Ich hoffe aber, die Altstadt kann ihren «Dörfligeist» bewahren und weiterhin ein belebtes Wohnquartier mit vielen einzigartigen kleinen Geschäften, Bars, Restaurants usw. bleiben. Ich bin auf jeden Fall sehr dankbar für die Zeit, die ich im Dörfli verbringen durfte und ich kann nur hoffen, dass mich mein Arbeitsweg auch bald wieder durch die Altstadt führt.

Benjamin Jermann


Unser Gastschreiber
Benjamin Jermann (1992) ist in der Zürcher Altstadt aufgewachsen, und zwar an der Brunngasse 6. Er besuchte die Primarschule Hirschengraben, das Realgymnasium Rämibühl und zwei Jahre die Zürcher Hochschule der Künste an der Florhofgasse. Danach ging die Ausbildung im neu eröffneten Toni-Areal weiter. Nach verschiedenen Masterstudien an der ZHdK absolviert er gerade einen vierten Master in Musikwissenschaft an der Universität Bern. Parallel dazu unterrichtet er an der ZHdK. – Er komponiert und gibt regelmässig Konzerte, unter anderem mit seiner Partnerin, der Sängerin Cassandre Stornetta. Mit ihr tanzt er auch Tango und lebt seit einigen Jahren in Wollishofen.

Foto: EM