Baukulturelle Resonanzen

Bild zum Artikel

Unsere Gastschreiberin Kathrin Siebert stammt aus der DDR, ist in einer Plattenbausiedlung aufgewachsen und freut sich umso mehr, heute in der Zürcher Altstadt zu leben.

Es sind die kleinen und oft unscheinbaren Details, die mich faszinieren. Details, die es zu entdecken gilt und hinter denen sich Geschichten verbergen. Details, die die Hektik des Alltags für einen Moment entschleunigen. Die es ermöglichen, in einen Dialog zu treten und Beziehungen aufzubauen. Innehalten und wahrnehmen – gerade in diesen denkwürdigen Tagen des erzwungenermassen stillen Daseins ist das auf besondere Weise möglich.

Besonderer Schutz
Das Haus, in dem ich heute lebe, hat eine mehr als 700-jährige Geschichte. Es wurde gebaut kurz vor dem Rütlischwur, dem Gründungsjahr der Schweizer Eidgenossenschaft, und hat somit schon beinahe etwas Mystisches. In dieser Zeit gab es in Zürich noch eine mächtige Äbtissin, die Stadt erlebte ihren ersten grossen Aufschwung. Dieses unscheinbare Wohnhaus ist allerdings äusserst real. Es steht sogar auf der Kulturgüterliste. Das heisst, sollte die Schweiz zukünftig jemals in die Verlegenheit eines bewaffneten Konfliktes geraten, so steht dieses Haus unter dem speziellen, im Alltag jedoch nahezu unsichtbaren Schutz des Bundes. Es gibt etwa 80 dieser besonderen Objekte im Kreis 1. Sie können beweglich, unbeweglich oder gar immateriell sein und reichen vom ETH-Hauptgebäude, der Universität und dem Schulhaus Hirschengraben, über diverse Zunfthäuser, bis hin zu verschiedenen Archiven und Sammlungen, wie dem Sozialarchiv oder dem Redaktionsarchiv der NZZ. Aber auch Brunnen, beispielsweise der im Sommer unter den Kindern so beliebte Rösslibrunnen und weithin bekannte Gebäude wie Grossmünster, Predigerkirche und Kunsthaus stehen auf dieser Liste.
Wohnhäuser, wie das unsrige, findet man jedoch kaum darunter. Wir HausbewohnerInnen dürfen uns also durchaus privilegiert und in besonderem Masse geschützt fühlen.

Grosssiedlungen
Das Haus in dem ich meine Kindheit verbrachte war gerade frisch gebaut, als meine Eltern dort einzogen. Auch dieses Wohnen war damals privilegiert. Nur waren hier nicht nur einzelne Objekte, sondern grad das ganze Land auf spezielle Weise geschützt. Eine offensichtlich streng bewachte Grenze sorgte für klare Verhältnisse. Es war in der DDR durchaus nicht einfach, eine der modernen Plattenbauwohnungen zu ergattern. Für junge unverheiratete Menschen war es ein nahezu aussichtsloses Unterfangen. Und selbst mit Kind warteten meine christlich getrauten Eltern noch mehr als ein Jahr, um endlich dem Kinderzimmer meines Vaters zu entkommen, welches sie notgedrungen zu dritt bewohnten. Modern und bequem lebte es sich in diesen wenig sozialen sozialistischen Grosssiedlungen. Keine Kohlen mussten geschleppt werden und das Wasser floss stets warm aus der Leitung. Der Preis dafür war ein äusserst monotones und anonymes Lebensumfeld. Wohnungen und ganze Quartiere glichen sich wie ein Ei dem anderen, wurden bewohnt nahezu ausschliesslich von jungen Familien . Ich konnte mich in den Wohnungen meiner Schulfreundinnen jeweils ohne Probleme sofort orientieren, auch wenn ich sie das erste Mal betrat. Unser Neubaublock stand einsam auf dem Feld, als wir einzogen. Wir wohnten in der obersten Etage. Am Anfang gab es unendlich viel Himmel zu sehen, später wurde dieser Anblick durch immer mehr immer gleiche Fenster, Türen und Fassaden ersetzt. Der Massstab dieser Grosssiedlungen war, besonders für mich als Kind, absolut überdimensioniert und weitläufig. Manche Wege kamen mir geradezu endlos vor.

Kleinmassstäblich
Auch heute blicke ich auf viele weitere Fenster, wenn ich aus dem unseren schaue. Himmel sehe ich ebenso wenig. Aber es gibt ein paar ganz wesentliche Unterschiede. Haben Sie schon einmal darauf geachtet, wie viele unterschiedliche Fenstergrössen und Fensterläden es gibt, wie viele verschiedene Türen und Hauseingänge, wie viele Farben?
Im Inneren der Häuser potenziert sich diese Vielfalt geradezu. Keine einzige Wohnung gleicht einer anderen. Nahezu jede Treppe, jeder Bodenbelag ist einzigartig. Das ganze städtische Gebilde ist lebendig, in stetiger Veränderung und durchtränkt von verschiedenen (Ge-)Schichten. Die Wandelbarkeit dieser Häuser scheint unendlich. Über die Jahrhunderte hinweg konnten sie ihren Charme erhalten.
Die Durchmischung der BewohnerInnen – vom Säugling bis zur Greisin – und der gewerblichen Nutzungen – bis hin zum Handwerk –, trägt ihr übriges zur Lebensqualität bei. Besonders aber die Kleinmassstäblichkeit, das Beengende, die plötzlichen Aufweitungen zu kleinen Plätzen, die Gegensätze, die Nähe zum Wasser und die Vögel, die am Morgen so lautstark in den Bäumen zwitschern, zählen für mich zu den Details, die das Leben im Niederdorf so l(i)ebenswert machen.

Merkwürdige Stadt
Die Stadt meiner Kindheit war gerade 20 Jahre alt, die jüngsten Wohnblöcke noch im Werden, als sich die Grenzen plötzlich öffneten. Ich habe mich lange gewundert, was an der Stadt meiner Kindheit so merkwürdig war. Heute weiss ich, es war die Geschichtslosigkeit und die Lieblosigkeit, die spürbare Eile mit der gebaut wurde und die Wirtschaftlichkeit, die als Maxime den Lebensraum gestaltete. Es gab keine verwunschenen Plätze, keine verwinkelten Gassen, keine Gärten, keine Wasserflächen, keine Aufenthaltsqualität, keine Museen, Theater, Kinos, kein Handwerk oder Gewerbe – nur Wohnungen, Schulen, Kitas und Kaufhallen. Mehr schien nicht nötig, um die Menschen zu behausen. Fliessend Warmwasser und Fernheizung waren Luxus genug in einer Welt, in der Luxus offiziell verpönt war. Was ich als Kind nur diffus spüren und kaum benennen konnte: Wohnungen allein erzeugen noch keine Stadt und schon gar nicht so etwas wie Lebensqualität. Es ist ein komplexes Zusammenspiel aus verschiedenen sichtbaren und unsichtbaren Details, die wichtig sind. Und es braucht Resonanz. Es braucht jene, die sich um das Entstehen oder den Erhalt dieser Details kümmern und jene, die dieses wahrnehmen.
Lange und intensiv beschäftige ich mich nun schon mit der Geschichte, dem Bauen, mit Städten und Gesellschaftsmodellen, um die dahinterliegenden Ideen zu verstehen. All dieses Wissen und diese Prägungen spüre ich heute, wenn ich unsere schwere, geschichtsträchtige Haustüre öffne, die mich in unseren persönlichen schweizerischen Kulturgut-Hochsicherheitstrakt aufnimmt. Dann fühle ich mich geborgen und daheim, auch ein bisschen stolz, aber vor allem dankbar, dass ich dieses alltägliche Nachhausekommen auf so besondere Weise wahrnehmen und wertschätzen kann.

Kathrin Siebert


Unsere Gastschreiberin
Kathrin Siebert (1975) ist in der DDR, im heutigen Thüringen aufgewachsen. Nach dem Architekturstudium in Erfurt arbeitete sie zunächst in Rotterdam und Delft. 2003 kam sie in die Schweiz, um Architekturgeschichte an der ETH zu studieren. Anschliessend folgten ein Studium der Kunstgeschichte und Geschichte an der Universität Zürich und die Dissertation an der ETH über einen Schweizer Architekten. Während des Studiums arbeitete sie bei der Graphischen Sammlung der ETH, danach als Dozentin an der ETH. Seit 2018 ist sie Geschäftsleiterin von «Archijeunes», einer Organisation, die sich der baukulturellen Bildung von Kindern und Jugendlichen widmet. – Sie lebt seit 2009 in der Altstadt, mit ihrem Mann und den zwei Söhnen.

Foto: EM