Über unseren Köpfen

Die Altstadt: nichts als Gemäuer und Pflästerung, ganz ohne Grün, ohne weiteres Leben? Falsch. Die Gastschreiberin Ingrid Flury-Specht zeigt uns eine andere Welt, die mit genauer Beobachtung, gezieltem Hinhören und einigem Wissen sich erschliesst.

Die grünen Oasen der Altstadt, die Dachgärten und besonders die versteckten Innenhöfe, sind Refugien für die «wilde Natur»: für Vögel, Insekten, Kleingetier, sogar für seltene Pflanzen.
Ein solcher Innenhof liegt im Geviert von Schoffelgasse, Münstergasse, Römergasse und Nägelihof. Überwölbt wird er von einer riesigen, bald 60 Jahre alten Zwillingsesche, deren Stamm bis weit hinauf dicht mit Efeu bewachsen ist; ausserdem wachsen dort noch weitere Bäume und dicht belaubte Büsche mit Beeren auf feuchter schattiger Wiese. Dieser Hof ist ein wahres Paradies für Vögel! Zu jeder Jahreszeit ist ihr Tisch reich gedeckt mit Früchten, Beeren, Insekten, Würmern und vielerlei Samen.

Kampf um die Nistplätze
Im Frühling, wenn die Sommerbewohner einziehen, beginnt ein lautstarker Gesangswettbewerb im Kampf um die besten Nistplätze. Deren Auswahl ist gross: in den Astgabeln der Bäume, im Efeudickicht, in Hecken und dem Wilden Wein auf den Dächern, unter Dachvorsprüngen, Dachpfannen und in alten Schornsteinen.
Am frühen Morgen, mit der ersten Dämmerung, sitzen die Hausrotschwänze auf den Dachfirsten, ständig wippend mit ihren roten Schwänzchen, und singen ihr zweistrophiges Lied mit dem Zischlaut dazwischen.
Bald folgt das Flötenkonzert der schwarzen Amseln. Als Spottvögel imitieren sie Geräusche aus der Umgebung, manchmal leider auch das Tatü Tata der Rettungswagen wie vor einigen Jahren. Diesmal aber werden wir von den Amseln verwöhnt mit vielen verschiedenen Gesangsstrophen und wunderschönen Kadenzen: sie haben die Gesänge der anderen Singvögel in ihr Repertoir aufgenommen. Dabei singen die Amselmännchen ähnlich: wahrscheinlich sind es Vater und Söhne; denn die jungen Amseln lernen den Gesang vom Vater und bilden eine lokale Gesangstradition.
Die Mönchsgrasmücken mit den samtschwarzen Mönchskäppchen singen ihr bezauberndes Zwitscherlied mit dem «Überschlag» am Ende erst bei helllichtem Tag und noch einmal gegen Abend, wenn sich auch die Amseln noch einmal zum Abendkonzert melden.
Zudem rufen den ganzen Tag über die schönen hellbraunen Türkentauben mit dem schwarzen Halsband ihr grugruu gru. Dazu lärmt die Schar der Hausspatzen. Zuweilen klettert auch ein Kleiber mit lautem twiht, twiht in der Esche herum. – Jetzt aber, im Sommer, ist der Gesang selten und leise geworden. Die Vögel füttern schon ihre zweite oder sogar dritte Brut.

Gefahr aus der Luft
Dabei sorgen die Hofkatzen für beständigen Stress und Aufregung. Manchmal zetern die Amseln unaufhörlich: keck, keck, keck; sodass ihnen nur wenig Zeit bleibt zum Füttern. Sobald die jungen Amseln das Nest verlassen, werden sie von den Altvögeln an einen sichereren Ort geführt; zum Beispiel auf die Dachterrassen, wo sie zwischen den Töpfen hocken und ununterbrochen nach Futter schreien: tschiik tschiik, sobald die Eltern in die Nähe kommen. Dabei werden sie von den Altvögeln mutig verteidigt: laut zeternd fliegen sie immer wieder im Sturzflug dicht über die Köpfe der Katzen hin, so dass diese oft genug entnervt aufgeben. Grosse Gefahr droht den Jungvögeln auch aus der Luft. Die Dohlen aus der Kolonie, die im Frühling im limmatseitigen Grossmünsterturm brütet, wissen genau, wann die Vogeljungen im Hof ausschlüpfen. Dann hocken sie unter grossem Palaver in den Zweigen der Esche und versuchen, die Nester auszurauben. Deshalb überleben von der ersten Brut der Singvögel meist nur wenige Jungvögel, – die zweite und manchmal dritte Brut ist oft erfolgreicher.
Wenn Raubvögel über dem Hof kreisen, beginnen die Singvögel aufgeregt mit durchdringenden Warnrufen. Dabei scheinen sie sich über die Artgrenzen hinweg zu verständigen, sobald ein Vogel warnt, fallen alle anderen ein und verstecken sich. Trotzdem gelingt es den Raubvögeln immer wieder, einen Vogel zu fangen, indem sie pfeilschnell aus dem Himmel herabstossen. An erster Stelle sind es die Sperber, die regelmässig im Hof Beute machen; zuweilen fängt auch ein Wanderfalke eine Taube oder einen Singvogel – meist jedoch nur, solange die Esche noch unbelaubt ist. Der Schwarze Milan, der Bussard und auch die Turmfalken, die in manchen Jahren im Grossmünsterturm nisten, sind dagegen keine grosse Gefahr.
In der Dämmerung jagen die lautlosen Fledermäuse im Hof. Oft fliegen sie ganz nah über unsere Köpfe und kurven sicher und elegant durch das Zweigwerk der Esche, dank ihres Ultraschall-Echo-Systems. Es sind meistens Mausohren und die kleinen Zwergfledermäuse, die in Paaren jagen und ihr Junges bei sich tragen.

Zwitschern und Trillern
Die typischen Sommergeräusche aber verdanken wir den Seglern. Hoch oben pfeilen die schwarzen Mauersegler, die Spiren, in grossen Scharen über den Himmel mit ihren sehnsuchtsvollen Rufen: zieh, zieh. Sie gehören zu den ersten Zugvögeln, die uns verlassen – oft schon Ende Juli. Tiefer über den Dächern fliegen die Alpensegler – grösser als die Spiren und braun mit heller Unterseite – unaufhörlich zwitschernd und trillernd im Flug. Sie fangen die Insekten über den Baumkronen und jagen sogar nachts um den Fraumünsterturm, ihren Nistplatz hinter dem westlichen Zifferblatt; denn sie schlafen in der Luft, wie alle Segler.
Ab Mitte August wird es langsam Herbst im Innenhof. Die Zugvögel verlassen uns in Richtung Süden, die Spatzen und die Amseln als «Teilzieher» suchen sich einen Winterort, und die Fledermäuse machen sich bereit für den Winterschlaf in ihren Verstecken rund um den Hof. Bald aber wird die erste Meise in der Esche zwitschern und zu unserer Freude den Einzug der Wintergäste verkünden; denn solange der Hof so erhalten bleibt: mit dem grossen Baum, den Büschen, der leicht verwilderten Wiese, werden auch die Vögel jedes Jahr, sommers wie winters, dorthin zurückkehren.

Unsere Gastschreiberin
Ingrid Flury-Specht wurde 1935 in Anklam nahe der polnischen Grenze geboren und lebte dann in Kiel und Bonn. Nach dem Studium der Biologie, das sie mit einer Dissertation abschloss, kam sie im Jahr 1965 nach Zürich, wo sie bis 1971 an einem Forschungsprojekt mitarbeitete und am Botanischen Institut der Universität Lehraufträge hatte.
Am Freud-Institut machte sie sodann die Ausbildung zur Psychoanalytikerin. Seit den Siebzigerjahren führt sie eine eigene Praxis. Sie ist daneben in der Lehre tätig: am Freud-Institut, das sie vier Jahre leitete, und am Psychologischen Institut der Uni Zürich. – Seit 2001 wohnt die Mutter eines erwachsenen Sohnes in der Altstadt, wo sie auch ihre Praxis hat. Hobbymässig beschäftigt sie sich noch immer mit Pflanzen und Tieren.