Mein wirkliches Zuhause

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Unser Gastschreiber Ueli Wick beschreibt, wie er bereits als kleiner Junge jeweils an den Neumarkt gefahren ist und wie er sich da aufgehoben fühlte. Heute wohnt er dort ganz in der Nähe.

Meine ersten drei Jahre verbrachte ich mitten im Kreis 4. Meine Erinnerungen daran sind sehr schwach. Nachdem meine Schwester Laura (Neunzigerjahre im Kreis 4, man kennt es) beim Spielen in der Bäckeranlage eine Spritze gefunden hatte, entschlossen sich meine Eltern, in eine kinderfreundlichere Umgebung zu ziehen. Die restliche Kindheit verbrachte ich also im Kreis 10, in der ehemaligen Post von Höngg, einem grossen Haus mit Garten, der Schulhausplatz bloss ein Gitterzaunsprung entfernt. Obwohl ich eine tolle Kindheit genoss, wurde ich nie wirklich warm an diesem Ort. Da meine Schwester und ich in die Gesamtschule Unterstrass im Kreis 6 zur Schule gingen, haben wir nie richtig Fuss gefasst in der Nachbarschaft, weil niemand der Kinder genau wusste, wer wir waren. Doch zu dieser Zeit sollte ich mein richtiges Zuhause schon längst gefunden haben…

Wichtige Anlaufstelle
Am Anfang, als ich etwa fünf Jahre alt war, waren es jeweils die Samstagnachmittage, die mir in Erinnerung sind. Mein Vater, meine Schwester und ich machten uns auf den Weg an den Neumarkt, um meine Mutter, Barbara, von der Arbeit abzuholen. Ich war ab der ersten Sekunde von diesen Gassen begeistert. Erstens, weil eine unglaubliche Harmonie dort herrschte – die übrigens immer noch besteht. Zweitens, weil ich meine Mutter von einer neuen Seite wahrgenommen habe, einer Seite, die mir bis anhin völlig unbekannt war. Ab diesem Moment wollte ich praktisch jede freie Minute in diesen Gassen verbringen und bald darauf, als ich etwa sieben Jahre alt war, fuhr ich nach der Schule vom Kreis 6 alleine Richtung Neumarkt, um da meine Hausaufgaben zu machen oder mit anderen Kindern zu spielen, so lange, bis meine Mutter Feierabend hatte und anschliessend mit mir nach Hause ging. Gut in Erinnerung bleibt mir, wie sie mich jeweils mit einem Fünfliber in das Restaurant nebenan schickte, um eine Ovi zu trinken. Eigentlich immer dann, als sie am Bedienen war und ich allen Kunden im Laden den Weg versperrte, weil ich just in diesem Moment ihre alleinige Aufmerksamkeit wollte.
Damals lernte ich auch Daniel «Däne» Altheer kennen, die gute Seele der «Kantorei». Er war sozusagen meine Aufsichtsperson. Däne war damals wirklich mein bester Freund. Von ihm habe ich wohl mehr gelernt als von manchem Lehrer. Und auch wenn wir nicht mehr viel miteinander zu tun haben, wird er für mich immer eine wichtige Kontaktperson bleiben. Genauso wie vor zwanzig Jahren. Er sagte mir erst neulich, dass er mich schon kenne seit ich fünfjährig bin. Da sagte ich ihm: «Däne, ich kenne dich, da warst du so alt wie ich es heute selber bin.» Mir wurde bewusst, dass die Zeit für alle gleich schnell vergeht.

Magisches Instrument
Seit ich denken konnte, blieb ich immer mit Ehrfurcht vor dem Schaufenster am Rindermarkt 3 stehen. Ich traute mich jedoch nie, den Laden zu betreten und deshalb betrachtete ich das Objekt meiner Begierde stets von aussen. Die Rede ist von Frankie B., dem Coiffeur. Immer, wenn ich durchs Fenster starrte, war im inneren des Salons ein Tohuwabohu. Aber das Einzige, was mich interessierte, war diese alte «Fender Telecaster»-Gitarre, die an der Wand hing. Ich hätte alles gegeben, sie einmal von nah zu betrachten, wusste aber gleichzeitig, dass ein kleines Kind dort drin eigentlich nichts verloren hatte, bis einmal «Massimo», mein Grossvater, am Laden meiner Mutter am Neumarkt 3 vorbeiging und rief: «Ich bin auf dem Weg zu Frankie.» Da wusste ich sofort, dass das meine Chance war, und rannte ihm nach. Also sass ich dort und starrte an die Wand, während er sich die Haare schneiden liess. Auf einmal fragte Frankie: «Na, junger Mann, willst du spielen?» Und nahm die Gitarre von der Wand. Er legte kurz die Schere zur Seite und zeigte mir einen A-Moll-Akkord. Also spielte ich diesen einen Akkord immer und immer wieder, bis ich die Kuppen meiner kleinen Finger schlussendlich nicht mehr spürte.
Das Gitarrenspiel brachte ich mir vor Jahren selbst bei, meine Gitarren-Sammlung ist inzwischen im zweistelligen Bereich, ich kann aber nach wie vor keine einzige Note lesen.
Genau deswegen halte ich Frankie B. in besonderer Erinnerung. Mir blieb es verwehrt, meine Haare von ihm schneiden zu lassen, mit ihm ein Bier zu trinken und mit ihm über Musik zu plaudern. Aber die allererste Gitarre, die ich je in Händen hielt, war von ihm, und der allererste Akkord, den ich spielen konnte, hatte ich von Frankie B. gelernt.

Klare Grenze für ein Kind
Ich hatte das Privileg, mich im Quartier immer frei bewegen zu dürfen. Meine Mutter hatte wohl genug Vertrauen in mich, dass ich alleine zurechtkommen würde. Aber eine Sache hat sie mir stets verboten: die Mühlegasse zu überqueren. Sie sagte, es sei zu gefährlich, wegen der vielen Autos, welche mit einem ziemlichen Carracho jeweils um die Kurve donnerten. Und wer hätte damals gedacht, dass aus einem simplen Verbot mir einmal klar werden würde, wo zu Hause ist und wo nicht? Ich lebe nun seit vier Jahren an der Chorgasse und immer, wenn ich die Mühlegasse überquere (heute darf ich das), kommen mir die Worte meiner Mutter in den Sinn. Als hätte sie es schon immer geahnt, wo ihr Sohn hingehört. Und sollte es wirklich so gewesen sein, kann ich nur sagen, dass sie recht hatte und dass ich ihr unheimlich dankbar bin dafür.
Sollte ich einmal vergessen, wo mein Zuhause ist, brauche ich nur die Mühlegasse zu überqueren, um mich daran zu erinnern.

Ueli Wick

Unser Gastschreiber
Ueli Wick (1994) ist in Zürich, mehrheitlich in Höngg, aufgewachsen. Er besuchte die Gesamtschule Unterstrass und die Freie Oberstufenschule Zürich. Anschliessend absolvierte er die Lehre zum Detailhandelsassistenten bei Ochsner Sport, wo er weitere drei Jahre arbeitete. Sodann folgten diverse Jobs im Verkauf, im Kino, in Bars, zuletzt beim Restaurant «Hiltl». Derzeit ist er auf Stellensuche. Mit 18 Jahren zog er für vier Jahre in eine Wohngemeinschaft in Schlieren, seit vier Jahren lebt er in der Altstadt, an der Chorgasse. Musik ist seine grosse Leidenschaft. Autodidaktisch erlernt, spielt er Schlagzeug, Gitarre, Bassgitarre, Klavier, Mundharmonika, und er lernt Geige.

Foto: EM