Ein Leuchtturm im Niederdorf

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Das «Igniv by Andreas Caminada» – Igniv heisst rätoromanisch Nest – gibt es nun auch im Zürcher Niederdorf. Sogar ein nicht sonderlich Graubünden-Affiner wie mein Innerschweizer Liebster war nach fünf Minuten begeistert – grazia fich! Wegen der Hummer-Bisque, einem fabelhaften «kleinen Zwischengericht».

Warum einer wie Andreas Caminada aus dem zauberhaften Schloss Schauenstein in Fürstenau im Domleschg auch nur temporär auszieht, ist wohl nur mit dem Bündner Gen der Weltläufigkeit zu erklären. Bündner Gastronomen und Zuckerbäcker sind schliesslich schon immer in alle Welt ausgeschweift. Caminada hat es vorsichtig angehen lassen. Er baute sein erstes «Igniv» im nahen Bad Ragaz, dann eins im Hotel Palace zu St. Moritz. Bald wird man bei Caminada auch in Bangkok einkehren können. Aber Zürich ist näher.
«Miniskirts forever» lautet das Programm, von Silvie Fleury knallrot an die Wand gekunstet. Die Einrichtung im ehemaligen Restaurant «Baltho», das nie so recht zum Laufen kam und dem legendären Restaurant «Rothaus», in dem der unzürcherisch freizügige Gastronom Emil Bäggli (1896-1966) «dezenten Striptease» anbot, wurde von der spanischen Designerin Patricia Urquiola in Rostrot, Safran und Türkis (einschliesslich der Corona-Zwischenwände) ausgestattet. Hausherr Beat Curti, der das Rothaus zum Hotel Marktgasse verwandelt hat, hat unternehmerisch radikal gehandelt, ganz nach dem Motto von Oscar Wilde: Ich habe einen ganz einfachen Geschmack, ich wähle immer das Beste. – Küchenchef ist der Österreicher Daniel Zeindlhofer, der wie auch die Gastgeberin Ines Triebenbacher mit Caminada zusammen gearbeitet hat. Sie gehören gewissermassen zu seiner Familie.

Ein Höhepunkt nach dem andern
Doch nun endlich zu Tisch – die Küche will grüssen. Das japanische Onsen-Ei, perfekt, wird offeriert. Die eingangs schon gerühmte Hummer-Bisque (Fr. 24.–) tritt auf als überraschende Fischsuppe von elementarer Würzigkeit – ein Geschmackserlebnis mit Seltenheitswert! Es folgen ein Portiönchen Rindstatar mit Kartoffel und Belper Knolle (Fr. 32.–) und Zanderstückchen mit Rhabarber-Ceviche und Sellerie (Fr. 32.–): alles feinste Küche auf höchstem Niveau, sorgfältig gearbeitet, elegant präsentiert – ein Leuchtturm mitten in einem Meer von Pizza, Burgern und Döner!
Ob es in diesem Milieu auf die Dauer genügend Gäste gibt, die sich einen ausserordentlichen Gourmet-Abend je nach Wahl des Weins zwischen 400 und 600 Franken für zwei kosten lassen, ist unsere einzige Sorge an diesem sonnigen Mittag, da uns zwei schwarz gewandete Kellnerinnen mit chicem schwarzem Mundschutz kundig beraten und auf das Freundlichste bedienen. Klasse braucht keine Pose.  Beim Sharing-Menue (Fr. 158.– pro Person) kann man mit seinen Mitessern in vier Gängen insgesamt fünfzehn Gerichte teilen. Es gibt auch den Business-Lunch in drei Gängen (Fr. 68.–), was bei den Kosten für die erlesenen Zutaten und die kundige Belegschaft schon fast ein Discount-Angebot ist.

Wissen Sie, was Vertschi ist?
Die «Weinkarte» ist ein Buch, eine Bibel mit Kostbarkeiten aus allen Erdteilen, aber auch aus der nächsten Nachbarschaft. Drum darf der Weisse auch ein Räuschling «vom Höcklistein» sein, was ein Kraftort am Zürichsee sein soll, oder von Lüthi in Männedorf oder von «Stickel» Schwarzenbach in Meilen (Fr. 12.–).
Das neue Restaurant ist voll von Überraschungen. Eine haben sie uns zum Apéro serviert: Vertschi aus dem Kanton Aargau: Verjus (Saft von unreifen Trauben), alkoholfrei, fantastisch erfrischend (Fr. 7.– pro Dezi). Und zum Abschied gibts ein Bhaltis aus hausgemachten Süssigkeiten mit hohem Suchtpotenzial.
Es hat alles sensationell geschmeckt, ein kulinarischer Höhenflug!

Esther Scheidegger


«Igniv» by Andreas Caminada, Maktgasse Hotel, Marktgasse 17, 8001 Zürich, Tel. 044 266 10 10, www.igniv.com. Geöffnet Dienstag bis Freitag sowie Samstagabend. Bitte reservieren. Betriebsferien vom 19. Juli bis zum 10. August 2020.