Harald Naegelis Totentanz

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Am Montag, 17. August 2020, lud der Freundeskreis Grossmünster ein zur Führung zu Harald Naegelis «Totentanz». Das Interesse war gross und das Los musste über die Teilnahme entscheiden. Denn der Platz in den beiden Grossmünstertürmen, wo der als Sprayer von Zürich bekannt gewordene Künstler seine Figuren sprayte, ist natürlich begrenzt.
Seit vierzig Jahren polarisiert Harald Naegeli, der mal als Künstler geehrt, dann wieder wegen Sachbeschädigung angeklagt wird. Zuletzt hatten Kunsthaus wie Universität wegen gesprayter Figuren Anzeige gegen ihn erstattet. Das Kunsthaus hat das neben Rodins Höllentor angebrachte Skelett umgehend entfernen lassen, die Anzeige später allerdings zurückgezogen. Dagegen hat die Stadt inzwischen bekanntgegeben, dass Harald Naegeli mit dem mit 50 000 Franken dotierten Kunstpreis der Stadt Zürich geehrt wird.
Nach einleitenden Worten durch Christoph Schneider vom Freundeskreis Grossmünster führten der Kurator Thomas Gamma und Pfarrer Christoph Sigrist die Gäste in zwei Gruppen zu den Spraybildern.
Christoph Sigrist erklärte, er hätte seitens Grossmünster den Wunsch des Künstlers, im Grossmünster einen Totentanz darzustellen, immer unterstützt. Ein komplexes Vorhaben indessen, weil die Türme dem Kanton gehören. Es wurden Abmachungen getroffen und nicht eingehalten, es kam zum Abbruch der Übung, weil die zum Anbringen der Spraybilder vorgesehene Fläche überschritten wurde. So muss das Werk wohl ein Fragment bleiben, es fehlen zwei Figuren. Was hat man denn erwartet von einem, der immer Normen hinterfragte, Grenzen überschritt? Die Situation ist verfahren und der Künstler ist alt und schwer krank. Ein Trauerspiel.
Konkret war es der Fuss des Skeletts im öffentlich zugänglichen Karlsturm, der die vereinbarte und vorbehandelte Fläche überschritt und zum Zankapfel wurde. So bleibt die Darstellung des Todes, des Totentanzes, nicht nur vergänglich (auf zehn Jahre befristet), sondern auch fragmentarisch.
Im für die Öffentlichkeit normalerweise nicht zugänglichen Glockenturm, ausnahmsweise geöffnet, erklärt Christoph Sigrist eine der Figuren. Man sieht Brüste, die eigentlich Augen darstellen, die Urmutter. Auf der Wand daneben der Tod, ein Skelett, mit einem Fisch und – einer Infusion? Man ist am Rätseln und Deuten. Bevor Harald Naegeli zur Tat schritt, weiss Christoph Sigrist, gab es immer einen zeitlichen Vorlauf, ist Denkarbeit vorausgegangen. Viele Stunden habe Naegeli im Turm verbracht, habe sinnierend dagesessen. So erstaunt es nicht, dass die wie zufällig hingesprayten Figuren auch längerer Betrachtung und Deutung spielend standhalten können.
Beeindruckt, bereichert und nachdenklich gestimmt verlassen die Gäste der Führung das Grossmünster.

Elmar Melliger