Altstadt-Erinnerungen

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Unser Gastschreiber Louis Voellmy erinnert sich an seine jungen Jahre in der Altstadt. So war er aktiv mit dabei, als es galt, den Hechtplatz umzugestalten, vor über vierzig Jahren.

Im August 1974 bezog ich ein Zimmer an der Spitalgasse 4. Ohne Sonne, nur das Stöhnen der Tauben im Hinterhof. Vierzehn Monate habe ich es in diesem winzigen Zimmer ausgehalten. Als Student hatte ich Zeit für die Mitarbeit in der «Fourmière» im Theater Stok montags, für kollektives Malen im Theater Neumarkt samstags und für «dolce far niente» in den Lokalen, von denen eigentlich nur die «Bodega» geblieben ist.
1975 konnte ich in eines der fünf Angestellten-Zimmer im «Karl der Grosse» umziehen. Das Haus stand bis auf zwei Architekturbüros leer. Der Umzug war ein Happening. Mit einem Handwagen durch die Marktgasse und die Münstergasse, dann die Kirchgasse runter, x-mal.
Im Haus Oberdorfstrasse 36 nebenan lebte eine WG der Wogeno. Wir teilten uns die Dachterrasse. Und das Telefon. Hier verbrachte ich bewegte sieben Jahre, 1975 bis 1982. Nach Studienschluss herrschte Baukrise und ich war arbeitslos. Neben der Stellensuche war ich aktiv im Quartier.

Aktion grüner Hechtplatz
1977: Im Oberdorf regte sich Widerstand gegen die vorgesehene Umgestaltung des Hechtplatzes, der als Parkplatz diente.
Die «Aktion grüner Hechtplatz» wurde ins Leben gerufen. Ich übernahm die Aufgabe, als Anlaufstelle den Papierkram zu erledigen, für das Hechtplatzfest die Bewilligungen einzuholen, Plakate zu gestalten und das Programm festzulegen. Für das Patronat konnten wir den Stadtpräsidenten Sigi Widmer gewinnen.
Das Fest sah einen Maibaum als Symbol für die vier Bäume längs des Limmatquais vor. Dazu brauchte es also einen Kranz (von Frau Blumen-Binder), einen «Baum» und ein Loch. Hardy Hepp: «Louis, das wäre mal
was Praktisches für dich, nicht nur
so Papierkram!» Also holte ich Pickel und eine Schaufel vom Werkhof an den Unteren Zäunen.
Eine bestehende Teerscheibe mit einem Meissel aufbrechen? Vergeblich! «Theater-Coiffeur» Max, mit Salon oberhalb der «Kronenhalle», holte flugs von der Baustelle an der Schifflände einen Kango-Hammer und half mir aus der peinlichen Patsche. Einen Tag lang in Zürich ein Loch graben!
Das war vor 1980 («Züri brännt»). Ich blieb ungestört. Eine Frau fragte noch, was ich denn da mache («ein Loch»), wozu («um einen Maibaum zu setzen») und warum («weil wir hier vier Bäume wollen»). Sie: «Wenn das alle so machen…» Ich: «Dann haben wir mehr Bäume in der Stadt.» – Eine Forderung, die in der heutigen Zeit gerade wieder sehr aktuell ist! Ein Jugendlicher kam vorbei, wollte auch «ein Loch graben». Ich überliess ihm die Schaufel. Setzte mich ins «Eckstein»: «Ein Bier bitte!»
Es wurde ein grosses Fest, viele halfen mit. Viele Besucherinnen und Besucher und viele Musiker aus der Altstadt: Hardy Hepp und Urs Wäckerli, Düde Dürst und Andreas Vollenweider, die Minstrels usw. Ach, wie viele habe ich vergessen – auch Helferinnen und Helfer!
Dass wir für alles, was gespielt wurde, SUISA-Gebühren zahlen mussten, obwohl alle ihre eigenen Kompositionen gespielt haben, verstehe ich bis heute nicht.

Versammlung im «Weissen Wind»
Ein Modell wurde im Saal des Restaurants «Eckstein» aufgestellt: Es half den Anwohnerinnen und Anwohnern, eigene Ideen zu skizzieren. Und verwirrte die Profis, wegen seinem Massstab 1:33.
Die Quartier-Vollversammlung nach dem Fest fand im Saal des «Weissen Wind» statt – mit dabei war der Stadtförster Herr Zbinden. Die Denkmalpflege wollte keine Bäume: «Das ist die alte Quaimauer: Keine Bäume!» Da fragte Louis Pête: «Herr Zbinden, wer entscheidet, wo ein Baum gepflanzt wird?» Antwort: «Ich.» Frage: «Finden Sie, vier Bäume passen da hin?» Antwort: «Ja.» Frage: «Entscheiden Sie hier und jetzt, dass strassenseitig vier Bäume gepflanzt werden?» Kurze Pause und dann, gefolgt von tosendem Applaus: «Ja, das machen wir!» – Danke, Herr Zbinden!
Dazu gab es eine Linde für den «Eckstein», gedacht für die Gartenbeiz, die leider nicht mehr ist. Diese nunmehr über vierzigjährige Linde wurde von Stadtrat Ruedi Aeschbacher und uns gepflanzt.

Videogruppe Altstadt
Im Altstadthaus hat die Videogruppe Altstadt zum monatlichen Quartierzmorge einen Videobeitrag gezeigt. So zum Beispiel über «Gebi, de Strassewüscher vom Bellevue», dessen Kunst 2019 im «Musée Visionnaire» gezeigt wurde). Mit Beno Loderer haben wir ein Video für die Jungbürgerfeier gemacht. «Heissi Manne» hiess ein Video über die Altstadt-Feuerwehr, die anlässlich des Absturzes des «Sky-Lab» am 11. Juli 1979 einen Pikettdienst aufgezogen hatte, falls die Trümmer über der Altstadt von Zürich verglühen sollten. Ob dieses und andere Videos noch vorhanden sind und abgespielt werden können?

Bewegte Zeit
Allein im «Karl» zu wohnen hatte auch seine Kehrseiten, wie zum Beispiel als die Polizei in das Haus eindrang, weil auf der Haustür «Kriseninterventions-Zentrum» stand. Gedacht für Menschen, die in der Weihnachtszeit Halt suchten. Die Polizei dagegen hielt das Haus für das Zentrum der «Bewegung» und stürmte mit Gummischrot-Gewehren bewaffnet bis vor meine Wohnungstür im obersten Stock. Was tun? Ich zog mich nackt aus und öffnete die Tür: «Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl, ich wohne hier!» Perplexe Augen, sie zogen wieder ab.
In dieser Zeit habe ich ab und zu nachts Dias von den gesprayten Wandzeichnungen von Harald Naegeli auf die Rückseite des Grossmünsters projiziert. Auf der Dachterrasse hat auch das «Radio Schwarzi Chatz» seine Sendungen verbreitet. Später wohnte ich mit Radio LoRa im selben Haus an der Mainaustrasse.

Fichenskandal
Offenbar waren in den «Vollversammlungen» der «Aktion Hechtplatz» auch Spitzel, denn als ich meine Fiche zur Einsicht erhielt, war der erste Eintrag meine damalige Beteiligung: «… wollen scheint’s den Hechtplatz verschönern.» Zu dieser Zeit hatte ich mein Büro an der Spitalgasse 5 zusammen mit VCS, Geschichtsladen und anderen Selbständigen. Auch dazu gab es Einträge.
Nach 1989 verlor ich nach und nach den Kontakt zur Altstadt. Aber wir heirateten und tauften unsere drei Kinder im Grossmünster.
Mit Beat Schweingruber teilte ich das Büro an der Spitalgasse und zusammen mit Lorenz Keiser und Jonas Thiel stellten wir 1991 den «Fichenladen» auf die Beine: Im Fenster des «Saftlade» an der Marktgasse verkauften wir an einem Samstagabend im Rahmen einer kabarettistischen Aktion für 5.– Ausdrucke von den «Fichen», die wir per Modem aus dem EJPD herunterluden – fiktiv natürlich, erstellt mittels eines Zufallsprogramms, das ich geschrieben und wozu wir alle vier absurde Texte im Voraus verfasst hatten, wie «trinkt abends gerne noch ein Bier».

Wieder im «Karl»
Stadträtin Emilie Lieberherr besichtigte gegen 1983 das Haus «Karl der Grosse» im Hinblick auf den bevorstehenden Umbau zum Seniorenzentrum und ich hatte die Gelegenheit sie zu fragen, wohin ich denn nun ziehen sollte. Ihre Antwort: «Sie können im Alter dann wieder einziehen.» Wenn sie wüsste, wie recht sie hatte: 2015 bezog ich wieder ein Zimmer, nur einige Meter neben meiner Studentenbude! Klar, andere Grundrisse, Lift, Küche und Dusche, aber ich kam wieder nach Hause!

Louis Voellmy

Unser Gastschreiber
Louis Voellmy (1949) kam 1965 aus der Ostschweiz nach Zürich, wo er an der ETH Architektur studierte und nach acht Jahren auch abschloss. Nach dem Studium 1977 herrschte eine Bauflaute und als Arbeitsloser konnte er im Oberdorf in der «Aktion grüner Hechtplatz» aktiv werden. Danach war er sieben Jahre bei Pro Juventute angestellt und studierte 1985/1986 als Fachhörer Informatik an der ETH.
In den folgenden Jahren arbeitete er als selbständiger Spiel- und Pausenplatzberater, später als Informatiker, war er Hausmann und Vater von drei Kindern. 2015 bezog er eine Alterswohnung im Karl der Grosse, wo er schon als Student 1975 bis 1982 wohnte.    Foto: zVg