Zwei Türme im Visier

Unser Gastschreiber Christoph Schneider hat frühe Erinnerungen an die Altstadt, in der er auch einige Jahre gelebt hat. Heute engagiert er sich für den «Freundeskreis Grossmünster».
Schon als Bub – ich bin im gutbürgerlichen Zofingen aufgewachsen – hatte das ferne Zürich etwas geheimnisvoll Weltstädtisches für mich. Bis heute unvergesslich: mein erster Besuch im märchenhaft geschmückten Franz Carl Weber an der Bahnhofstrasse. Das muss Ende der 1950er-Jahre gewesen sein. Oder auch die aufregende Fahrt mit der Rolltreppe hinauf zur Modelleisenbahn im mir riesig erscheinenden Jelmoli. Das dörfliche Zürich habe ich zum ersten Mal 1967 als Kanti-Schüler kennengelernt. Mit unserer Klasse waren wir in die Grossstadt gereist, um die revolutionäre Chagall-Ausstellung im Kunsthaus zu besuchen. Die berühmten Fenster im Fraumünster gab es damals noch nicht. Wir, ein Grüppchen neugieriger junger Männer, zeigten uns zwar beeindruckt von den Werken des russischen Künstlers, doch viel spannender und elektrisierender war die anschliessende Entdeckungstour durchs Niederdorf, den «Sündenpfuhl von Zürich», wie man im tiefen Aargau sagte. Stolz, endlich zur grossen weiten Welt zu gehören, zogen wir durch einige der berühmt-berüchtigten Lokale und endeten schliesslich in der völlig verrauchten «Kon-Tiki-Bar», einem der damaligen Hotspots: Heavy Rock ’n’ Roll, schummriges Licht und langhaarige Halbstarke mit kurz-berockten Bräuten – für mich war das Liebe auf den ersten (Niederdorf)-Blick.
Dachwohnung
Nach der Matura habe ich an der Hochschule St. Gallen Wirtschaft studiert und mir anschliessend in New York bei einem zweijährigen Praktikum die ersten Sporen abverdient. Wieder zurück in der Schweiz, hat mich die Zürcher Altstadt magnetisch angezogen. Dort fand ich dann auch eine Dachwohnung an der Frankengasse: zwei abgeschrägte Zimmer, Einbauküche, Bad – ein Refugium und ein Nest, in dem ich mich sechs spannende Jahre lang mehr als wohl fühlte. Vom Bett aus konnte ich sogar die beiden mich schon damals faszinierenden Grossmünstertürme sehen.
Anfang der 1980er-Jahre war dann Schluss mit dem Junggesellenleben. Ich zügelte nach Uitikon-Waldegg, wo ich heute noch wohne, und wurde heimisch. Beruflich war ich all die Jahre über in der Wirtschaft tätig.
Der Kirche hatte ich bald einmal den Rücken gekehrt. Eine private Enttäuschung war der Grund für meinen Austritt. Doch nach 25 Jahren kehrte ich in die christliche Gemeinde zurück, was sogar den mich willkommen heissenden Pfarrer verblüffte. Die Gründe für meine Rückkehr waren nicht nur religiöser Natur. Ich wollte vor allem wieder einer Werte- und Glaubensgemeinschaft angehören, die für unsere Gesellschaft viel Gutes tut.
Im Präsenzdienst
Es war im Mai 2015 – ich nahm an einer Nachtführung im Grossmünster teil –, als ich Pfarrer Christoph Sigrist kennenlernte. Wir kamen ins Gespräch und schon bald hatte er mich als freiwilliges Mitglied des Präsenzdienstes gewonnen. Schon eine Woche später hatte ich meinen ersten Einsatz. Wir «Präsenzdienstler» sind Gastgeber und dazu da, die in normalen Jahren gut 600 000 Besucherinnen und Besucher aus aller Herren Länder, die im Grossmünster empfangen werden, zu betreuen, Fragen zu beantworten oder sie mit den Pfarrpersonen zusammenzubringen.
«Freundeskreis Grossmünster»
Eines Tages – vier Jahre ist das jetzt her – habe ich mich mit Christoph Sigrist bei einem Kaffee in der «Altstadt-Bar» über die sich verändernde Situation im und um das Grossmünster unterhalten.
Die damals geplante Fusion der Stadtzürcher Kirchgemeinden war unser Thema, aber auch die wachsende Zahl der Kirchenaustritte. Rückblickend war das der Startschuss zum heutigen «Freundeskreis Grossmünster». Es sollte kein Verein, sondern ein offenes Forum sein – eines, das sich auch mit knappen Mitteln und ohne zeitaufwendige administrative Arbeiten organisieren lässt.
Allen, die das Grossmünster schätzen und es häufiger von innen erleben möchten, sollte es ein Zuhause und ein ganz besonderer Ort für Veranstaltungen sein.
Dieses Ziel haben wir erreicht. Heute ist der «Freundeskreis Grossmünster» eine Institution für alle: für Menschen aller Konfessionen und Kulturen, für Zürcher und Nichtzürcher, für Gottesdienstbesucher und für solche, die am Sonntagmorgen lieber zu Hause bleiben. Der Beitritt ist übrigens kostenlos und ohne Verpflichtung (freunde@grossmuenster.ch oder Freundeskreis Grossmünster, Zwingliplatz 4, 8001 Zürich). Wir organisieren Führungen und Konzerte, wie zum Beispiel am 1. Februar 2021 mit La Lupa – das nun leider wegen Corona verschoben werden muss –, aber auch Wanderungen zu kirchenhistorisch interessanten Orten. In der Reihe Grossmünster-Gespräche «Persönlich» laden wir Menschen ein, die im Fokus des gesellschaftlichen Lebens stehen. «Mister Corona» Daniel Koch, Stadtpräsidentin Corine Mauch, TV-Mann Kurt Aeschbacher und Kabarettist Viktor Giacobbo waren schon bei uns zu Gast. Am 1. März wird es der Stadler-Rail-Unternehmer Peter Spuhler sein – sofern es die Corona-Situation zulässt.
Meine Rolle im «Freundeskreis Grossmünster»? Ich leite und schätze ihn. Weil er mir Verantwortung abverlangt, aber ebenso viel Befriedigung und Anerkennung schenkt. Es ist eine Aufgabe, die mich heute, da ich pensioniert bin, trägt.
Nach Jahrzehnten habe ich also den Weg zurück in die Altstadt gefunden. Obwohl ich nicht mehr im Dörfli wohne, fühle ich mich dort noch immer wohl und zu Hause. Die Liebe auf den ersten Blick – sie hat gehalten. Bis heute.
Christoph Schneider
Unser Gastschreiber
Christoph Schneider (1948) ist in Zofingen (AG) aufgewachsen. Nach der Kanti in Olten studierte er an der Handelshochschule St. Gallen Betriebswirtschaft. Nach einem zweijährigen Praktikum in New York folgten Anstellungen in der Schweiz. 1990 bis 2001 war er beim Zentrum für Unternehmensführung in Thalwil, einem Anbieter betrieblicher Weiterbildung (Aufbau der firmeninternen Weiterbildung). Danach bis 2017 selbständig tätig im Bereich Management Development.
1975 bis 1981 wohnte er in der Altstadt, seither in Uitikon-Waldegg. Er schätzt das kulturelle Angebot der Stadt Zürich, ebenso gutes Essen. Und er ist leidenschaftlicher Wanderer und Nordic Walker. Seit 2017 leitet er den von ihm aufgebauten Freundeskreis Grossmünster mit heute 2200 Mitgliedern. Foto: EM