I found my love am Stüssihof

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Unser Gastschreiber Marc Schaetzle ist weit herumgekommen. Doch die meiste Zeit seines Lebens hat er in der Umgebung oder inmitten der Altstadt verbracht.

Meine Eltern waren nicht sehr sesshaft. So bin ich in Lausanne, Genf, Basel und in Lima, Peru, aufgewachsen. Dort erkrankte ich 1954 an Kinderlähmung und wurde nach Zürich in die Balgrist-Klinik überführt. (Randbemerkung, die ich mir in unserer Covidzeit nicht verkneifen kann: Zwei Jahre später wurde die Impfung gegen den Kinderlähmungsvirus zugelassen, die sich durchsetzte und bewirkte, dass wir heute weltweit poliofrei sind.)
Fast ganz gesundet besuchte ich danach die Primarschule, das Gymnasium und die Uni, alles im Umkreis der Zürcher Altstadt.
Nach dem Unterricht führten die Wege jeweils ins Niederdorf, anfänglich ins «Marökkli» und seltener in den «Schwarzen Ring», eine verruchte Bar, was niemand wissen durfte. Später eher weinlastig in die «Bodega».

Zahlreiche Reisen
Als Jus-Assistent hatte ich meinen Arbeitsplatz am Altstadtrand im altehrwürdigen Haus zum Rechberg, mit Blick auf den Barockgarten. Tagsüber wälzte ich Bücher, korrigierte Seminararbeiten, damals noch mit Rotstift, und verfasste mehr oder weniger taugliche Gutachten. In den Pausen hätte ich gerne die nun unmittelbar danebenliegende Café-Bar «Chiffon» aufgesucht, doch zu meiner Zeit war dort nur eine Garage. Aber am frühen Abend bot der Neumarkt abwärts ins Dorf schon damals viel Abwechslung – vielleicht mehr als heute, oder ist das bloss Einbildung? Seis wies ist, nach dem Anwaltsexamen wollte ich die grosse, weite Welt kennenlernen. Als Sekretär der Schweizerischen Zentrale für Handelsförderung (damals OSEC) konnte ich  Ausstellungen und schweizerische Messebeteiligungen im Ausland organisieren. Dies führte mich in zahlreichen Reisen auf mehrere Kontinente. Eine spannende, intensive Zeit, Neuland überall.
In Afrika jedoch erkrankte ich viral erneut mit schweren Lähmungen, von denen ich mich in Valens weitgehend erholte, was aber der Reiserei ein Ende setzte. Also, zurück auf Feld 1, zur Juristerei.

Abendliche Beizengänge
Wieder gehen lernend erhielt ich in der Völkerrechtsabteilung des Auswärtigen Departementes (damals EPD, heute EDA) einen neuen Job und zügelte nach Bern in eine Dachwohnung, beim Bärengraben an der Aare. So kam ich auch im Regen frühmorgens unter den Lauben trocken ins Bundeshaus oder konnte bei schönem Wetter vom bunten Treiben im Marzili unten staunend mich ablenken oder mich später in der grünen, grünen Aare selber treiben lassen. Ich brauchte diese Kompensationen, denn in der täglichen Arbeit beschäftigte mich schon damals, dass die Schweiz mit der EU in völkerrechtlicher Hinsicht haderte und hartnäckig eine Fünfer-und-Weggli-Politik verfolgte. Rückblickend aber haben es mir in meiner Berner Zeit vor allem die Spazier- und die abendlichen Beizengänge durch die Altstadt angetan.

Den Anzug weggehängt
Als ich für die ehemalige Stelle in neuer Funktion nach Zürich zurückkehrte, musste es deshalb zum Wohnen unbedingt wieder die Altstadt sein. Was sich als grosses Glück erwies, lernte ich doch zwei Wochen später meine neue Nachbarin Joya am Stüssihof kennen. (Näheres zu ihr im Altstadt Kurier vom Februar 2018.) Sie, lebensfrohe Künstlerin voller Charme und mit roten Haaren, ich Jurist, mehr oder weniger comme il faut im dunkelgrauen Seidenanzug, Krawatte und Ledermappe. Ein Jahr später heirateten wir (an der Fasnacht, maskiert, inmitten unserer Gugge) und richteten uns eine Gasse weiter an der Ecke Froschaugasse/ Rindermarkt ein.
Dies war unser erster ehelicher Wohnsitz, aber leider nur für kurze Zeit, weil uns wegen Eigengebrauch gekündet wurde. Ungern verliessen wir das Niederdorf.
Und erst nach Jahren im Kreis 6 und nach dem Auszug von Joyas Söhnen konnten wir zurück in die Altstadt und in eine Wohnung an der Schipfe einziehen, in der wir nun seit über zwanzig Jahren das Vor- und Rentendasein geniessen dürfen.

Hohe Lebensqualität
Seither hängen auch der Seidenanzug und die ungeliebten Krawatten im Schrank. Gute Zeichen der Zeit und des in lockerer Richtung fortschreitenden Zeitgeistes. – Dazu gehört aus meiner Sicht auch die rasante Entwicklung des Internets und der Hardware (iPad und iPhone). Früher suchte ich das Abenteuer in der Ferne, heute kommt die Welt auf dem Display angerast und überschwemmt uns mit (meist überflüssigen) Informationen. Um diesem Informations(über)fluss auszuweichen, hat sich uns als probates Mittel die hohe Lebensqualität der Altstadt erwiesen.
Die Limmat lädt bei sommerlichem Wetter zum morgendlichen Bad ein, der Lindenhof zum Boulespiel. Die endlich wieder geöffneten Gartenbeizen und Restaurants werden wieder zum geselligen Treffpunkt. Das Literaturhaus und die Zentralbibliothek, die Arthousekinos, alle sind wieder offen und in unmittelbarer Nähe. Die Führerausweise haben wir abgegeben, das Auto verkauft.
Der nächtliche Lärm nimmt zu: das Dröhnen im Herzschlagrhythmus, das Kreischen der Mädchen beim Sprung ins Wasser – es ist Sommer. Frühmorgens versinkt er wieder in der friedlich dahinfliessenden Limmat. Darüber die Brücken, sie laden zum Verweilen ein (solange sie der Limmat standhalten und nicht abgebrochen werden), aber auch zum Überqueren, offen für beide Seiten der Altstadt, jede hat ihren eigenen Reiz.
Mein Lobgesang auf die Altstadt möge aber nicht von Zürich Tourismus vermarktet werden. So hat zum Beispiel die schöne, aber enge Passage beim Blumenladen an der Schipfe jetzt, wenn wir und die Touristen schon bald fast alle geimpft sind, schwere Verstopfungstendenzen und manchmal Uringestank.
Aber auch das nehmen wir privilegierten Altstadtbewohner natürlich in Kauf. Das Positive überwiegt bei weitem. Entsprechend gerne wohnen wir in der Altstadt, weil sie so ist, wie sie ist.

Marc Schaetzle

Unser Gastschreiber
Marc Schaetzle (1944) ist in Lausanne geboren. Weitgereist, aber über sechzig Jahre wohnhaft im Umkreis der Altstadt von Zürich, davon über vierzig im Herzen der Altstadt. Schule in Lima und in Zürich, Jura-Studium in Zürich und Lausanne, Dissertation und Anwaltsexamen.
Danach als Jurist bei der Handelszentrale (OSEC, heute Switzerland Global Enterprise) und in der Völkerrechtsdirektion des Eidg. Politischen Departements (heute EDA). Ab 1984 Rechtsanwalt als Geschädigtenvertreter und Autor im Haftpflichtrecht sowie Mitherausgeber des Schadenberechnungsprogramms «Leonardo». – Marc Schaetzle ist seit 1981 verheiratet, seine Ehefrau hat zwei Söhne und drei Enkel. Seit 1999 an der Schipfe wohnhaft.   
Foto: EM