Nostalgie und Zukunftsvision

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Unsere Gastschreiberin Sophia Senn ist in der Altstadt aufgewachsen. Im Oberdorf, wo es besonders idyllische Ecken gibt. Sie reflektiert das Spannungsfeld mit der umgebenden Stadt.

Im Jahr 1967, bereits ein Jahr vor den grossen 1968er-Bewegungen also, kam es im Zürcher Oberdorf, genauer vor und im Café «Odeon», zur Demonstration. Einige Tage zuvor wurde dort einer Besucherin der Eintritt verweigert. Das Problem für Eigentümer Schwarz war die Kleidung der jungen Frau: Sie trug einen Minirock. Nachdem sich mehrere Männer auf die Seite der Frau im Minirock stellten, wurden auch diese kurzerhand des Lokals verwiesen. Hinter der sogenannten Minirock-Demo steckte aber weit mehr als das kurze Kleidungsstück allein. Im selben Gebäude und nur ein Stockwerk über dem «Odeon», wo der Konflikt stattfand, wurde nämlich zur gleichen Zeit und vom gleichen Eigentümer ein Striptease-Lokal betrieben. Natürlich galten dort ganz andere Kleidungsvorschriften. Eine Frau wegen zu nachlässiger Bekleidung aus solch einem Lokal zu schicken, wäre schliesslich absurd.
So gingen Hunderte auf die Strasse und brüllten mit Plakaten wie «Oben Striptease unten Sexmuffel!» gegen die vorherrschende Doppelmoral. Die Empörung war (verständlicherweise) gross. Dass eine dünne Decke beziehungsweise ein dünner Boden Verhaltensregeln ändert, Recht zu Unrecht macht und umgekehrt, wurde von den Demonstranten und Demonstrantinnen nicht akzeptiert.
Einige der Parolen könnten aktueller kaum klingen: «Odeon gut! Feuerwasser gut! White Man Schwarz nicht gut!» Dass der «white man» schon damals ein Begriff war, erstaunt mich. Natürlich ist der Ausdruck auch einem Wortspiel mit dem Nachnamen Schwarz des Hauseigentümers geschuldet, dennoch, man könnte meinen, der Spruch auf dem Banner stamme von heute.

Mitten im Oberdorf…
Dass Demonstrationen wie diese mitten in der Altstadt, ja mitten im Oberdorf stattfanden, erstaunt mich immer wieder. Ich für meinen Teil finde es nämlich sehr stimmig, dass das Oberdorf Oberdorf heisst. Das Leben fühlt sich hier tatsächlich sehr dörflich an.
Da wo ich aufgewachsen bin, grüsst man sich auf den Strassen oder besser in den Gassen im Vorbeigehen. Manchmal zwischen Oberdorfstrasse und Winkelwiese sagt man sogar Leuten «Grüezi», die man überhaupt nicht kennt. Das mache ich sonst nur beim Wandern in der Natur. Man hört Brunnen plätschern und Vögel zwitschern, es ist die Idylle, wie man sie treffender kaum erfinden könnte. Das war 1967 wahrscheinlich nicht völlig anders.
Und ein paar hundert Meter weiter eine Demonstration, die so gar nicht mit dem vermeintlichen Dorfcharakter vereinbar zu sein scheint.

Zwischen Metropole und Dorf
Gerade diese Ambivalenz widerspiegelt für mich aber die Zürcher Altstadt. Sie liegt irgendwo zwischen grossstädtischer Metropole und kleinbürgerlichem Dorfkern, zwischen utopischer Zukunftsvision und träger Nostalgie, zwischen den Eltern meiner Primarschulfreunde auf dem Velo und der riesigen Touristengruppe aus aller Welt im Car, ja vielleicht eben ein bisschen zwischen Striptease und Sexmuffel.
Ob das wie im «Odeon» der 1960er die Doppelmoral automatisch beinhalten muss, sei den Überlegungen jedes Altstädtlers und jeder Altstädtlerin selber überlassen.

Lärm und Ruhe
Ich geniesse diese Wandelbarkeit auf jeden Fall und bin froh, dass das schöne schlafende Dorf manchmal durch Musik, Lärm und Geschrei daran erinnert wird, dass es eigentlich der Kern einer doch noch beachtlichen, wenn natürlich global oder auch nur europaweit gesehen immer noch sehr kleinen Stadt ist, die laut werden kann und darf, wenn ihr etwas nicht passt, wie das bei der Minirock-Demo der Fall war.
Oder zum Beispiel auch am Frauenstreiktag dieses Jahres, an dem sich Zehntausende Frauen und Männer am Central versammelten, um durch die Stadt zu ziehen.
Es war ein heisser Tag und Miniröcke wurden als Kleiderwahl zum Glück voll und ganz akzeptiert (1967 sei Dank!). Man steht am Limmatquai und staunt über die verschiedenen Menschen, die mitten in Zürich zusammenkommen und man staunt auch, dass man so viele von ihnen noch nie gesehen hat.
Genauso schön ist aber diese Ruhe, die nach einer Demo, nach einer Streetparade, nach einer EM oder WM voller Public Viewings oder einfach nach einem heissen Sommerwochenende in der Altstadt doch immer wieder einkehrt. Es ist eine Ruhe, die nicht nur durch das Fehlen von Lärm entsteht, sondern durch eine ganzheitlichere Unaufgeregtheit, die über den Gassen liegt. Ich glaube, die Ruhe wäre weniger erholsam ohne den Lärm. Und ich glaube, der Lärm wäre energieloser ohne die Ruhe.
Diese Kleinbürgermetropole, dieses Grossstadtdorf, diese utopische Nostalgie, diese träge Zukunftsvision, das ist für mich die Zürcher Altstadt.

Sophia Senn


Unsere Gastschreiberin
Sophia Senn (1993) ist im Oberdorf an der Winkelwiese und an der Trittligasse aufgewachsen – im Haus, in dem sie den Kindergarten besucht hatte.
Auf die Primarschule im Schulhaus Hirschengraben folgten die Gymnasien an der Hohen Promenade und am Stadelhofen, wo sie die Maturität mit musischem Profil erlangte. 2014 begann sie ihr Studium an der Uni, Germanistik und Philosophie. Neben dem Studium hat sie gejobbt als Museumsaufsicht im Landesmuseum und danach zwei Jahre im Restaurant «Kaiser’s Reblaube».
Seit einem Jahr arbeitet sie beim Tournee-Theater Marie in Suhr (AG) als Regieassistenz. Sie wohnt in einer WG im Kreis 4.    Foto: EM