Brief eines Krippenkindes

Unsere diesjährige «Weihnachts­geschichte» hat Ueli Greminger, Pfarrer der Kirchgemeinde St. Peter, verfasst. Nein, halt, es ist der Brief eines Kindes… Doch lesen Sie selbst.

Liebe Eltern

Ich gratuliere euch, dass ihr in der Emanzipation einen so grossen Schritt geschafft habt! Es ist ja so wichtig, dass man sich als Erwachsene selber verwirklichen kann. So könnt ihr ganz eurem Beruf nachgehen. Ihr könnt intensiv eure sozialen Kontakte pflegen. Ihr könnt euch wieder mehr eurer Partnerschaft widmen. Und ihr habt auch wieder Zeit für eure Pläne. Ich bin so froh, dass ihr wieder ungehindert am sozialen Leben teilnehmen könnt und ihr gegenüber kinderlosen Paaren nicht mehr benachteiligt seid! Als ihr mir das gesagt habt, da habe ich zuerst nur geheult. An die Abendkrippe hatte ich mich schon gewöhnt. Auch an die Nachtkrippe. Das Wochenende konnte ich mir zuerst gar nicht vorstellen. Darum habe ich so geheult. Aber macht euch keine Sorgen. In der Zwischenzeit habe ich eingesehen, dass es auch für mich besser ist, wenn ich auch über das Wochenende in der Krippe sein darf. So kann ich viel intensiver mein Sozialverhalten mit Gleichaltrigen einüben. Ohne Stress und ohne euch zu stören. Du, Mami, kannst ohne schlechtes Gewissen deinen «Body-Soul Streching Workshop» machen und du, Papi, kannst unbelastet für den New Yorker Marathon trainieren.
Ich weiss nun, wie wichtig das für euch und euer seelisches Gleichgewicht ist. Ihr habt mir das sogar auf ein Blatt Papier gezeichnet. So konnte ich das verstehen, was euch so wichtig ist. Unten auf dem Blatt ist der Beruf. Ihr müsst ja so viel Geld verdienen, dass ihr alles bezahlen könnt. Mami, du musst jetzt sogar auch am Freitag arbeiten, damit du die Wochenendkrippe bezahlen kannst. Die ist halt sehr teuer. Du hast mir aber versichert, ich solle deswegen keine Gewissensbisse haben. Wenn ich am Wochenende in der Krippe bin und das für mich stimmt, dann wird alles gut. Habt ihr gesagt. Vor allem für mich und meine seelische Entwicklung. Ihr habt sicher recht. Wie bin ich euch dankbar, dass ihr wirklich nur mein Bestes wollt und dafür so viel arbeiten müsst! Auf der rechten Seite auf dem Blatt habt ihr einen Kreis gezeichnet. Das sind die sozialen Kontakte. Die sind für euch so wichtig. Das kann ich verstehen. Dass ihr mit euren Freunden alles ­besprechen könnt. All die Sorgen, die Erwachsene haben. Ich könne mir das in meinem Alter noch gar nicht vorstellen. Habt ihr gesagt. Was es bei den Erwachsenen alles für Sorgen gibt. Ihr habt sicher viel über mich ­besprechen müssen. Was ihr mit mir nur machen solltet. Zum Beispiel. Was wichtiger ist. Der Beruf oder das Kind. Wie bin ich froh, dass ihr eine Lösung gefunden habt. Und erst noch eine so gute. Und ihr habt jetzt auch mehr Zeit, um über die Dinge zu reden, die wirklich wichtig sind im ­Leben der Erwachsenen. Auf der linken Seite des Blattes habt ihr einen grossen Kreis gemacht und Partnerschaft hineingeschrieben. Ihr habt herausgefunden, dass ihr eure Partnerschaft vernachlässigt habt seitdem ich auf der Welt bin. Ihr seid einander fremd geworden. Auch sexuell. Ich weiss zwar nicht, was das bedeutet. Einmal hast du, Papi, zu Mami gesagt: «Mit dir ist es sexuell einfach nicht mehr das Gleiche wie vorher.» Es hat irgendetwas mit meiner Geburt zu tun. Und dass ich immer da bin und euch störe beim Küssen. «Dieses blöde Dreieck», hast du, Mami, dann gesagt. Ich habe das gut verstanden. Ich bin ja nicht blöd. Es ist wie wenn Papi eine Freundin hätte. Die würde auch stören. Und Mami wäre vorig. Wisst ihr, ich bin so froh, dass wir kein Dreieck mehr sind. Ich will ja nicht, dass sich Mami vorig vorkommt. Oben auf dem Blatt Papier habt ihr Wolken gezeichnet. Ganz ­viele Wolken. «Da sind unsere Träume und Pläne», habt ihr mir geheimnisvoll erklärt. Du, Mami, hast in eine Wolke hineingeschrieben: «Expertin in Body-Soul-Stretching» und du, ­Papi: «New Yorker Marathon unter 4 Stunden laufen.» Es hat aber noch viel Platz für Pläne und Träume. Ich finde das schön, dass ihr noch so viel Platz habt für eure Pläne und für eure Träume. Und dass ich euch dabei nicht mehr im Weg stehe. Wozu solltet ihr so viel arbeiten, wenn nicht dafür, dass ihr eure Träume und Pläne verwirklichen könnt? Das Allerschönste ist, dass ich auf dem Blatt Papier in der Mitte bin. Da steht in kleiner Schrift «Unser Kind». So herzig. So schön. Ich bin der Mittelpunkt von eurem Leben. Ihr habt mir das versichert. Ihr würdet immer für mich da sein. Tag und Nacht. Ich darf euch anrufen, wann immer es mir passt. Auch am Wochenende. Auch dann, wenn du, Mami, im Workshop bist und du, Papi, am Trainieren für den New Yorker Marathon. Ihr könnt sicher sein, dass ich euch nie stören werde mit ­einem unnötigen Anruf. Ich werde fleissig die Sozialkontakte mit Gleichaltrigen üben, damit, wenn ich gross bin, ich gut bin darin. Ich möchte so werden wie ihr. So emanzipiert. Ich möchte auch einmal so viel Geld verdienen wie ihr. So viel Zeit haben für die Partnerschaft. So viele Freunde haben, mit denen man offen über alle wichtigen Dinge der Erwachsenen reden kann. Ich möchte auch einmal so viele Pläne haben wie ihr. Wenn ich selber einmal ein Kind habe, dann möchte ich auch so rücksichtsvoll mit ihm sein wie ihr. Nur, dass es von Anfang an in die Wochenkrippe darf. Dann ist es seinen Eltern gar nicht im Weg und es darf von ­Anfang an die für das Leben so wichtigen Sozialkontakte mit Gleichaltrigen einüben.
Und nun möchte ich euch noch etwas über das Weihnachtsfest schreiben.
Ihr habt mir versprochen, dass ich euch an Weihnachten zu Hause besuchen darf. Darauf freue ich mich so. Ihr könnt euch das gar nicht vorstellen. Ich habe mir den Weihnachts­besuch gut überlegt. Ich habe ja Zeit am Abend, wenn ich im Bett liege und ich nicht einschlafen kann.
Ich besuche euch nur, wenn das für euch stimmt. Man sagt, dass die Familien an Weihnachten am meisten gestresst sind. Ich will aber nicht, dass es einen Stress gibt. Und wenn ihr, wie letzte Weihnachten, für euch eine spontane Reise nach Bali braucht, dann will ich euch nicht im Weg stehen. Ich habe das mit dem Leiterteam der Krippe besprochen. Auch sie haben sehr viel Verständnis für eure Situation. Ich könnte über Weihnachten ohne weiteres in der Krippe bleiben. Ich wäre natürlich schon ein wenig traurig. Aber es ist mir ein Trost, dass das Gotteskind, das an Weihnachten zur Welt kam, auch ein Krippenkind war.

Herzliche Grüsse

Eure Lucy