Das Weihnachtsversteck

Unsere diesjährige «Weihnachtsgeschichte» hat Martin Rüsch, Pfarrer der Kirchgemeinde Grossmünster, verfasst.

Ostereier werden versteckt, Weihnachtsgeschenke hingegen verpackt. Die Verpackung, wie bunt, glitzernd oder ausgefallen auch immer, ist dabei auch eine Art Verhüllung. Die Gabe wird verhüllt oder versteckt, um auf diese Weise das Moment der Überraschung grösser zu machen. Und es wird so der Akt des Auspackens und Entdeckens verschönert. Vielleicht brauchen wir dies: Dass wir suchen und entdecken können, dass Geheimnisse nicht einfach offen auf der Strasse rumliegen.
Auch die Strassen unserer Altstadt werden zum Advent hin weihnächtlich verwandelt. Der schönste Auftakt ist das Lichterfest. Unter vertrauten Blechmusikklängen, bei Nüssen und Mandarinen vor all den Geschäftstüren, die zu diesem Abend auf andere Weise offen sind. – Und in der Froschaugasse, am Neumarkt, an der Brunngasse oder am Rindermarkt begegne ich manchem vertrauten Gesicht als einem wie ebenfalls verwandelten. Es ist, als würde ein unsichtbares Tuch, eine Art Erwartungszauber uns hineinnehmen in die Weihnachtszeit. Die Ränder der Gassen säumen flackernde Kerzen in Gläsern.

Am Lichterfest
Kinder lieben das Lichterfest. In der Menschenmenge, im Stimmengewirr und Halbdunkeln ziehen sie umher, holen sich Chips, Kekse und Saft, erkunden manches noch unbekannte Versteck in den Gassen und Häusern. Dieses Jahr habe ich dabei meine jüngste Tochter, auf welche ich hätte aufpassen sollen, verloren. Immer wieder verschwand sie mit einer ihrer Freundinnen. So versuchte ich mit deren Vater Ralph eine koordinierte Begleitung wahrzunehmen, allerdings ziemlich erfolglos. Und als ich Joachim traf, der seinerseits auf der Suche nach seiner Tochter war, anerbot ich mich ihn zu unterstützen und verwies ihn an die Galerie, in deren Räumen sie wohl sein würde. Für mich mit dem Resultat, dass ich daraufhin weder meine Tochter und ihre Freundin noch deren Vater mehr finden konnte. Hingegen entdeckte ich später die kleine Tochter Joachims, welche sich ein anderes «Versteck» ausgesucht hatte. So kam mir das Lichterfest heuer eher vor wie ein etwas undurchdringliches Versteckspiel.

Verstecken und suchen
Weil Überraschungen zur Weihnachtszeit ja sein sollen, liess ich mich bald daraufhin an einem kalten Herbsttag erweichen, ein Versteckspiel bei uns im Haus mitzumachen. Nun denn mit umgekehrten Spielregeln: Ich sollte mich verstecken. Einfach sollen sie’s dabei nicht haben, dachte ich mir, und verbarg mich in einem halbvollen Kleiderschrank. Von innen zog ich die Schranktüre zu und sass so zusammengekauert im Finstern. Eine Ewigkeit, wie mir schien – bis plötzlich an der Tür gerüttelt wurde. Nur ganz kurz. Dann aber verschwanden die Stimmen wieder, es wurde still. Und gefunden wurde ich nicht. Schliesslich musste ich feststellen, dass die Kinder das Suchen aufgegeben hatten.
Das erinnert mich an jene chassidische Geschichte, welche auch von einem Versteckspiel handelt. Zwei Knaben spielten «Verstecken». Der eine verbarg sich, wartete lange in seinem guten Versteck, und je länger er nicht gefunden werden konnte, desto mehr freute sich sein Herz. Doch als er dann zu lange warten musste, kam er aus seinem Versteck hervor und erkannte, dass der andere die Suche nach ihm längst aufgegeben hatte. Da war er derart enttäuscht, dass er in die Stube des Grossvaters lief und sich bitter darüber beklagte, dass der andere nach ihm gar nicht erst gesucht hätte. Da kamen auch dem Grossvater die Tränen, und er sagte: «Schau, gleich wie du so klagt auch Gott.» Er hat sich verborgen und verhüllt, so, dass wir ihn suchen möchten, doch wir haben die Suche aufgegeben.

Das Weihnachtsversteck
Weihnachtsgeschenke werden eingehüllt und schön verpackt. Verhüllt werden sie, um entdeckt zu werden. Und kein Versteckspiel ist, wo die Suchenden fehlen. So ist’s vielleicht mit Weihnachten auch. Wenn jede Woche auf dem Kranz eine Kerze neu hinzu leuchtet, ist das Nachfragen, warum dies so sei, dieses Suchen wert. Und ebenso die Frage, warum wir denn Kugeln an den Weihnachtsbaum hängen. Wir leben von Bräuchen, Traditionen, alten Geschichten her. So liegt denn das Gesuchte nicht immer vor uns, es kann ebenso – verhüllt und verborgen – hinter uns liegen. Und all unsere Lichterketten und Sterne, die grünen Kränze und Zweige, die Glöckchen und Engelchen umspielen auf ihre Weise das schönste Versteck: Das Weihnachtsversteck. Jenen verborgenen Ort, den wir zu Weihnachten eben umspielen: mit Figuren und Bildern, mit Musik und Inszenierungen. Maria und Josef – so die biblische Erzählung – hatten jenen Ort nicht gesucht, aber sie wurden an ihn verwiesen.
Zu jener versteckten und lausigen Herberge des Stalls. Im Dunkeln der Nacht liegt jenes biblische Weihnachtsversteck verborgen. Doch Stroh und Futtertrog, Ochs und Esel verhüllen dann nicht mehr, dass inmitten der Nacht, in Armut und Unwichtigkeit und in sehr menschlichen Umständen sich die Gabe eines neuen Lebens enthüllt. Nackt und bloss. In der ganzen Menschlichkeit. Und diese liegt – zumal in unseren Tagen – nicht auf allen Strassen herum, aber sie muss stets aufs Neue gesucht werden.

Martin Rüsch