Musik, Familie und Mathematik

In loser Folge stellt der Altstadt Kurier Menschen aus der Altstadt vor, die schon lange hier leben. Ihre Geschichte(n) zu vernehmen ist immer eine spannende Sache. Diesmal führte der Weg zu einer Altstadtbewohnerin vom Neumarkt.

Für den Weg von der Stube zum Musikzimmer, das Ulla Thomann, 86, uns beiden Besucherinnen zeigen will, brauchen wir viel Zeit, weil sich im Flur zahllose Gegenstände befinden, zu denen eine Geschichte gehört. Schliesslich lebt sie seit 60 Jahren in dieser Wohnung am Neumarkt 13. Hier hat sie drei Söhne grossgezogen und mit ihrem Ehemann, dem Cellisten Hans Thomann, ein gastfreundliches Haus geführt. «Wir hatten damals kein Geld zum Reisen. Die Welt kam zu uns, vom Clochard bis zum Nobelpreisträger.» Kennen gelernt haben sich die beiden am Neumarkt 13, wo Ulla als Studentin ein Zimmer hatte, so wie er auch. Die Wohnung wies idealerweise einen Raum mit hervorragender Akustik auf. «Wir sind als arme Musiker an den Neumarkt gezogen, der damals eine heruntergekommene Gasse war, die Eltern haben sich geniert.» Dabei lebte auf diesem Stockwerk einst die Äbtissin Katharina von Zimmern. Ausgerechnet im Bad befindet sich noch ein verblasstes Fresko, allerdings aus späterer Zeit. Restauratoren haben einige Stellen freigelegt, unter anderem das Gesicht eines schwarzen Knaben, sichtlicher Bezug zum Namen des Hauses, «Mohrenkopf».

Schwäche für Mathematik
Der Flur lässt auf eine weitläufige, spannend verwinkelte Wohnung schliessen. Während Ulla Thomann Kaffee macht, geniessen wir am gedeckten Stubentisch den Blick auf die Gärten des Predigerquartiers. Auf einem Dach gegenüber bewegen sich Zimmerleute vor der Kulisse des Predigerturms wie Artisten auf den frisch gesetzten Balken, aber das gemütliche Wohnzimmer, voller Bücher, Bilder und bequemen Sitzgelegenheiten, bietet einen ebenso interessanten Anblick. Hier hat ein reiches Leben seine Schichtungen hinterlassen. Ulla Thomann erzählt begeistert von einem Buch über australische Ureinwohner. In kürzester Zeit setzt sie uns das Thema auseinander, trennt die wissenschaftlichen Aspekte von den erzählerischen Elementen, ein hellwacher Geist und ein verblüffendes Gedächtnis blitzen auf.
Die Gastgeberin spricht ruhig und artikuliert sorgfältig. In der warmen Stimme schwingt ein leichter Akzent, hochdeutsch oder bühnendeutsch; war sie am Ende Schauspielerin oder Sängerin? Nichts dergleichen, für den Gesang sei sie nicht begabt, dafür habe sie seit jeher «eine Schwäche für Mathe und Physik». Die besondere Färbung stamme möglicherweise von der deutschen Mutter. Der Vater, ein Ingenieur aus dem Thurgau, arbeitete in Ostpreussen und gründete dort eine Familie, mit der er zwei Jahre später nach Winterthur zog. Die junge Ulla kam erst nach dem traditionellen Welschlandaufenthalt für ihr Studium nach Zürich. An der Universität hielt sie es nach einigen Semestern Journalistik nicht mehr aus: «Es war Krieg, und in den Vorlesungen sprach niemand darüber. Das hat mich furchtbar gestört. Ich wollte etwas tun!» Sie ging zum Frauenhilfsdienst FHD und leistete an die 600 Diensttage. «Ich war ja sehr schüchtern. Im FHD habe ich viel gelernt, kam in der ganzen Schweiz herum.»

Zeit zum Reisen
Solange die Söhne klein waren, nahmen Erziehung und Haushalt Ulla Thomann ganz in Anspruch. Dazu kam die grosse Geselligkeit mit regelmässigen Hauskonzerten, Besuchern aus aller Welt und Privatschülern von Hans Thomann, die familiär aufgenommen wurden. Ihre Buben hätten «auf dem Obmannamt» gespielt, einer grossen Wiese beim Obergericht. Dann pflegte die Familie einen Schrebergarten am Zürichberg, wo sich die Kinder austoben und auch Freunde aus der Nachbarschaft mitnehmen konnten. Eines Tages erwachte Ulla Thomanns schlummernde Liebe zur Mathematik wieder. Der älteste Sohn war ins Gymnasium eingetreten und plagte sich zu Hause mit einer schwierigen Rechenaufgabe. Die Mutter hörte auf zu bügeln und schaute sich das Problem an. Es dünkte sie einfach und sie erklärte dem Filius die Lösung: so und so, und er solle noch mehr solche Aufgaben heimbringen. Im Alter von 50 Jahren schrieb sie sich an der Universität Zürich ein, diesmal für Mathematik und Physik. Die kurze Distanz von der Wohnung bis zur Uni habe es ihr erlaubt, Studium und Haushaltspflichten unter einen Hut zu bringen. Abgeschlossen hat sie nicht. «Es wurde seltsam, wenn ich mit meinem Sohn in der gleichen Vorlesung sass.» Ihre Gabe hat sie aber jahrelang für Nachhilfestunden einsetzen können. Heute noch löst sie zur Entspannung schwierige Matheaufgaben. Als die Kinder erwachsen waren, hatte Ulla Thomann endlich Zeit zum Reisen. Sie zog alleine oder mit einer Reisegruppe los. Hans Thomann blieb lieber ungestört bei seiner Musik daheim. So besuchte sie Australien, Ägypten, Kanada, Russland, China, ja sogar Indien und Nepal.

Innenwelt
Ein langes Leben in einem weit verzweigten Beziehungsnetz bringt auch Leid und Abschiede. Frau Thomanns ältester Sohn kam bei einem Bergunfall ums Leben. Vor 14 Jahren starb unerwartet schnell ihr Mann. Die Trauer ist spürbar, Ulla Thomann lebt mit ihr. Wie sieht ihr Alltag heute aus? «Viel zu wenig davon!» Sie lernt Chinesisch und ist Aktuarin in der Gartengesellschaft. Regelmässig liest sie Zeitung und schneidet alles aus, was für ihre drei Enkel von Interesse sein könnte. Dann spielt sie Klavier, strickt Socken, hört Radio und liest viel. Der Computer im Wohnzimmer dient vor allem für E-Mail-Kontakte nach Übersee. Leider hindern sie die Folgen von zwei Stürzen daran, weiterhin zu bildhauern. Noch besorgt sie die Wohnung selber, aber eine Hilfe könnte mit der Zeit nicht schaden, meint sie. Wie fühlt sie sich im Quartier? Sie spüre einen unsichtbaren Zusammenhalt, der Lebensmittelladen am Neumarkt und das Café Neumarkt seien für sie wichtige Orte. Mehr Worte mag sie nicht darüber machen. Sie ist nicht der Typ für Anekdoten und Nachbarschaftsgeschichten, Aussenwelt und Innenwelt sind bei ihr weit gespannt – Katharina von Zimmern hätte ihre Freude an dieser Nachmieterin.

Daniela Donati