Der Prunkraum aus dem Seidenhof

Mit der Sanierung des Westflügels geht das Grossprojekt des neuen Landesmuseums seinem Abschluss entgegen. In diesem Zusammenhang werden vorgängig die historischen Interieurs ausgebaut.

Die Erweiterung des Landesmuseums mit dem Neubau, der grosszügigen Eingangspartie samt Museumsshop, Cafeteria, Bar und Restaurant, den Möglichkeiten weiträumiger Sonderausstellungen und dem Angebot der öffentlich ­zugänglichen Studiensammlungen hat seit der Eröffnung im letzten Sommer ein breites Publikum angelockt, und das Museum verzeichnete 2016 einen Besucherrekord von rund 275 000 Personen.
Ob all den attraktiven Veränderungen kann leicht übersehen werden, dass das Grossprojekt der Gesamtsanierung des über 100 Jahre alten Hauses noch immer nicht abgeschlossen ist. Unmittelbar nach den Eröffnungstagen begannen die Vorbereitungen für die Renovation des Westflügels, in dem die aus dem späten 15. bis ins 17. Jahrhundert stammenden historischen Interieurs untergebracht sind. Dazu gehören auch sechs Zimmer aus der Zürcher Altstadt: drei Räume aus dem Fraumünsterkloster, das Zimmer aus dem Oetenbachkloster, das Prunkgemach des alten Seidenhofs und der Lochmannsaal aus dem Stadelhofenquartier.

Demontage der Interieurs
Mit ihrer weitgehend originalen Bausubstanz und der speziellen Atmosphäre haben diese Räume die Besucher seit jeher besonders angesprochen, meint man doch hier etwas davon zu spüren, wie die Menschen in vergangenen Zeiten gelebt haben. Dieser Teil des Museums untersteht deshalb auch den strengen Vorgaben des Denkmalschutzes und wird sich nach Abschluss der Bauarbeiten wieder so wie bisher präsentieren. Die Instandstellung des alten Mauerwerks nach den heute gültigen Ansprüchen der Erdbebensicherheit, der Einbau neuer Fenster und die Einrichtung einer Infrastruktur bezüglich Sicherheit, Klima und Elektroinstallationen, die heutigen musealen Anforderungen entsprechen, setzen voraus, dass alle Zimmer komplett ausgebaut werden müssen. Die Bauteile werden nach der Demontage in eine eigens für ihre Aufbewahrung konstruierte Depot-Baracke ins Sammlungszentrum des Schweizerischen Nationalmuseums in Affoltern am Albis überführt. Vier Spezialfirmen aus dem In- und Ausland wurden mit dieser anspruchsvollen Aufgabe beauftragt. Im Sammlungszentrum werden die Restauratoren-Konservatoren das Holzwerk reinigen, mit Schutzmitteln behandeln und, wo nötig, einzelne Fehlstellen ergänzen. Von dieser aufwendigen Aktion erhofft man sich auch zusätzliche Erkenntnisse über die Objekte, deren Konstruktionen, Materialien, vielleicht sogar über die Handwerker, welche die Wandtäfer und Kassettendecken seinerzeit geschaffen haben.

Reich verziert
Während der Abbau der spätgotischen Fraumünsterzimmer wegen deren schlichteren Ausstattung einfacher zu bewerkstelligen war und noch im vergangenen Jahr zügig durchgeführt werden konnte, erfordern die Arbeiten an den barocken Interieurs mit ihren fragilen Schnitzereien und empfindlichen Furnieren und Intarsien grössere Sorgfalt und kosten entsprechend mehr Zeit. Ende Januar erfolgte die Zerlegung des wohl wertvollsten Zimmers, des Prunkraums aus dem alten Seidenhof. Das um 1620 von einem unbekannten Künstler geschaffene Wand­täfer mit dem integrierten Buffet besteht aus Nussbaumholz mit Furnieren und Einlegearbeiten aus Riegelahorn, Wellenesche und Eiche. Es ist reich verziert mit architektonischen Elementen, Säulen, Bogenstellungen, verschiedenen Giebelformen, Gebälken, dazu als Dekor Vasen, Muschelwerk und Fratzen. In der profilierten Kassettendecke gruppieren sich Acht- und Sechsecke um eine mehrstufig ausgestaltete Mittelkassette. Die Architektur des Holzwerks setzt sich fort im monu­mentalen, 1620 datierten, eigens für dieses Zimmer gebauten Kachelofen des Winterthurer Hafners Ludwig Pfau. Mit seiner bunten Bemalung hebt er sich effektvoll ab von den dunkleren Farben der Holzwände.

Bis 1874 im Seidenhof
Dieses Interieur war Teil des 1587/88 erbauten alten Seidenhofs, des Wohn- und Geschäftshauses der im Handel mit Baumwolle und Seide reich gewordenen Familie Werdmüller. Der repräsentative Bau stand ausserhalb der mittelalterlichen Stadtmauer am Ort der heutigen Sihlstrasse gegenüber dem Warenhaus Jelmoli. Wegen der strengen Bauvorschriften im alten Zürich, die jede Prachtentfaltung verboten, wirkte das Äussere des zwar stattlichen Hauses eher schlicht und wies keine besonderen architektonischen Gliederungen oder auffallende Verzierungen auf. Die Treppengiebel mit später ergänzten Voluten, schöne Wasserspeier und Windfahnen und ein Hoftor in reichem Barockstil bildeten die einzigen ornamentalen Ausschmückungen. Umso augenfälliger zeugten im Inneren des Hauses ein heute nicht mehr erhaltener Festsaal und das oben beschriebene Prunkzimmer vom Wohlstand der Erbauer.
Der alte Seidenhof blieb bis 1809 in Werdmüllerschem Besitz und wechselte später mehrfach die Hand, was zum Verlust der originalen Inneneinrichtungen führte. Als der neue Besitzer 1874 den Seidenhof zu einem Mietshaus umbaute, wurde das noch vorhandene Zimmer von 1620 zum Verkauf angeboten. Schon damals war dieses dank einigen Publikationen in der Fachliteratur als besonders prachtvoller Wohnraum der Spät-Renaissance über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt geworden, und es bestand die Gefahr, dass das einmalige Zeugnis einheimischen Kunsthandwerks ins Ausland abwanderte. Um das zu verhindern, organisierten kunstsinnige Zürcher Bürger eine Geldsammlung, mit der sie erreichten, dass das Zimmer für Zürich gerettet und im damaligen Gewerbemuseum an der Friedensgasse aufgebaut werden konnte.
Als Zürich sich um den Standort des Schweizerischen Landesmuseums bewarb, boten Stadt und Kanton ihre Sammlungen als Grundstock für das geplante Museum an, auch die Objekte des Gewerbemuseums und darunter als das prominenteste das Seidenhofzimmer, ein Trumpf, der gewiss mit zum Standortentscheid der eidgenössischen Räte zugunsten von Zürich beitrug. Beim Bau des Museums erhielt das Zimmer auch gleich seinen festen Platz in der Raumfolge der historischen Interieurs.
Nach über hundert Jahren verlässt es nun zum ersten Mal das Haus und kann im Sammlungszentrum von den Fachleuten genau untersucht werden. Nur der mächtige Kachelofen bleibt wie alle anderen Öfen im Westflügel des Museums stehen, da ihr Ab- und Wiederaufbau zu aufwendig und zeitraubend wäre. Nach Abschluss der Sanierungsarbeiten werden die historischen Zimmer im Laufe des Jahres 2019 ins Museum zurückkehren, wo­rauf dieses dann endgültig für die nächsten Jahrzehnte fit sein dürfte.

Matthias Senn