Offene Weihnachten
Unsere diesjährige «Weihnachtsgeschichte» hat dieses Jahr Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster, verfasst.
Unser Quartier lebt von Beizen und Restaurants, unser Dorf wird durch Bars und «Chammere» mit Öpfel und Birnen geprägt, unsere Altstadt feiert Advent und Weihnachten mit offenen Türen und festlich geschmückten Herbergen und Wirtshäusern. So soll für dieses Jahr die von Pfarrpersonen traditionell geschriebene Weihnachtsgeschichte weder übersteuert fromm noch unterkühlt atheistisch in Ihre Stuben flattern. Ich sitze für einen Augenblick zu Ihnen und erzähle Ihnen die Geschichte, die sich vor zwei Jahren am Heiligabend in der Offenen Weihnachten in der Helferei abgespielt hat.
Da sitzt die Familie vis-à-vis von mir am Steintisch im Übergangszentrum in Embrach. Es ist August 2015. Unsicher blicken Dlovan und Hamrin mit ihrer kleinen Tochter, Suzan, mich an. Sie wussten vom Amt, dass ich komme. Ihr Bruder Nejirvan rennt herbei: «Ich bin zu spät, ich entschuldige mich, ich musste noch in einem anderen Heim übersetzen.» Die junge Familie lebt seit ein paar Monaten mitten unter Flüchtlingen aus unterschiedlichen Nationen. In der gemeinsamen Küche gibt es zu den Essenszeiten oft Spannungen und Stress. Jeder möchte so kochen, wie er es gewohnt ist. Das ist bei so vielen Personen in der Küche nicht immer möglich.
Eine Tradition
Die Kirchenpflege hat entschieden, eine Flüchtlingsfamilie in die Notwohnung von der Helferei aufzunehmen. Damit will sie ein Zeichen setzen: Seit Jahrhunderten ist die Aufnahme von Fliehenden am Grossmünster Tradition: 1555: Familien wie von Orellis durch Heinrich Bullinger, dem Nachfolger von Huldrich Zwingli; im 17. Jahrhundert dreissig von den Galeeren befreite ungarische reformierte Pfarrer. 1943 wurde zudem der Pfarrer von Seebach, Paul Vogt, zum Flüchtlingspfarrer der Schweiz in der Wasserkirche eingesetzt und kämpfte mit Gertrud Kurz bis vor das Bundesratszimmer von Eduard von Steiger für die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland. Bei der Einweihung der Bullingerstatue vor dem Grossmünster am Reformationssonntag 1941, so schrieb er später, wurde er zu dieser Aufgabe inspiriert.
Da sitzen Dlovan, Hamrin mit Suzan und erzählen mit wenigen Worten von ihrer Flucht aus Syrien. Auf der Flucht gebar Hamrin ihre Tochter. Seit Monaten leben sie mit vielen anderen zusammen in der Notunterkunft. Nun haben sie die Möglichkeit bekommen, zum ersten Mal als Familie in eigenen vier Wänden zu leben. Sie sind anerkannte Flüchtlinge und bleiben hier. «Ich freue mich so, endlich selber kochen zu können», sagt Dlovan auf kurdisch, übersetzt von seinem Bruder. «Danke vielmal allen, dass dies möglich wird.»
In der Küche der Helferei
Monate später, 24. Dezember, abends in der Helferei. Wie jedes Jahr stehen viele Menschen schon vor sechs Uhr abends vor der Tür, um aus der Kälte in die Wärme hineingelassen zu werden. Ich komme von der Weihnachtsfeier in der Herberge zur Heimat, gehe zum Hintereingang und gelange so in die Küche. Beim Eintritt schlägt mir eine Wolke von Dampf, Geruch und Hitze entgegen. Die Köche schwingen ihre Schwingbesen und das Servicepersonal rennt mit Schweissperlen auf der Stirn an mir vorbei: «Tschuldigung, muss hier durch.» «Sorry, ich stehe als Pfarrer öfters im Weg und im Schilf.» Kurzes Lachen, dann weiter. Die Stube in der Kapelle soll bereit sein, wenn sie kommen, die Gäste an Weihnachten, Obdachlose und Professoren, Familien und Einsame, Kind und Kegel, Reiche und Arme.
Alles ist wie jedes Jahr, doch etwas ist anders: Durch den Nebel erkenne ich ihn, Dlovan. Er rührt im Kessel und ist vertieft in seine Arbeit. Durch den Nebel des Dampfes erkenne ich immer mehr seine Züge. Er schwitzt, scheint jedoch zufrieden zu sein. In dem Moment vergesse ich alles um mich herum und Bilder von unseren gemeinsamen Erlebnissen ziehen an mir vorbei.
Deutsch lernen
Dlovan sitzt mitten in meiner Konfklasse und erzählt, übersetzt von seinem Bruder, wie er geflohen ist. Er wollte mit seiner Arbeit das politische und militärische System nicht mehr unterstützen. Er floh zu Fuss über die Grenze und wurde von Menschen aufgefangen und in ein Flüchtlingslager geführt. Dort konnte er mit einem fremden Handy seine Frau anrufen. Die Frau floh, schon schwanger, unter einem Zaun hindurch robbend, auch mitten in der Nacht. Er sei ein leidenschaftlicher Koch, ja, er könne gut kochen, ja, er möchte Deutsch lernen und als Koch bei uns arbeiten. Und die kurdische Küche sei einfach fantastisch.
Ich gehe spät in der Nacht in meine «Not-Wohnung», die gleich neben der Notwohnung der Kirchgemeinde liegt. Es ist hellhörig. Hamrin erteilt ihrem Mann Deutschunterricht: «Du hast gehört», sagte sie vor. Ich lausche: «Du hören…» Kurdische Worte, die die Ungeduld hörbar auch für mich zum Ausdruck bringt. «Du hast gehört!!!» «Du hören????» Schmunzelnd schlafe ich ein, indem ich unbemerkt Zuhörer einer nächtlichen Deutschstunde wurde, in der die Frau versucht, dem Mann beizubringen, wie richtig hören gesprochen wird. Die Kraftausdrücke dazwischen werden so liebevoll ins Kurdische verpackt, dass sie Geheimnis der beiden Lernenden bleiben. Das ist auch richtig so, Berufsgeheimnis des Pfarrers hin oder her.
Kurdischer Koch am Heiligabend
Der kurdische Koch am Heiligabend im Haus, wo Huldrich Zwingli, unser Reformator, mit seiner Familie und wohl auch ein paar Kindern der Schule Weihnachten gefeiert hatte: In dieser Helferei also kocht der Muslim für seine christlichen Gäste sein bestes Gericht. «Grüezi Christoph!» Mit seinen Kellen in der Hand umarmt er mich, sodass die zauberhafte Sauce auf dem Boden verspritzt. «Grüezi Dlovan.»
Und dann – zum ersten Mal – der Satz, auf den die freiwilligen Lehrerinnen, die ihm jede Woche Deutschunterricht geben, wie alle in der Helferei und ich persönlich fast jede Nacht so innig gewartet haben: «Wie geht es dir? Mir geht es gut! Viel Arbeit. Aber so schöne Arbeit!» Zum Dampf und den Saucen kommen nun noch die Tränen vom Flüchtling und vom Pfarrer hinzu. Wir beide halten uns lange, er drückt mir verschmitzt die Kelle in die Hand: «Jetzt du!» Und so geschieht, dass ich, der ich nicht kochen kann, zu kochen beginne, und der, der nicht deutsch sprechen kann, zu reden wagt. Die Nacht der Nächte, so sagen es die Menschen seit Jahrtausenden, sei das Wunder der Geburt Gottes in unsere Welt. Also muss wohl auch etwas von diesem Wunder im Kochtopf mit kurdischem Geschmack und im Deutsch mit kurdischem Akzent aufscheinen.
Scharf, gut für wach
Die Türen der Helferei öffnen sich, die Offene Weihnacht kann beginnen. Die helfenden und kochenden Mitarbeitenden tragen nun alle ein schwarzes, schönes T-Shirt und warten hinter dem Buffet auf die Gäste. Dlovan in der Mitte vor seinem Kochtopf. Er strahlt, als ich nach dem Gottesdienst im traditionell übervollen Grossmünster in die Kapelle komme, zusammen mit vielen anderen, die den traditionellen Glühwein geniessen wollen. «Du, Christoph, viel Arbeit. Viele Leute, alle haben Freude. Christoph?» Er schaut mich besorgt an: «Du müde? Komm, scharf, gut für wach.» Und ich sehe den Reis in der himmlisch scharfen Sauce schwimmen. Ich höre mich noch in der Kirche predigen: «An der Krippe waren nicht nur Hirten, auch Weise aus dem Morgenland, alle Religionen finden in dieser Heiligen Nacht im Frieden zueinander. Deshalb kocht unser muslimische, kurdische Koch das Weihnachtsessen für uns Christen.» Offene Weihnacht besonderer Art, Dlovan Art.
Nachsatz: Dlovan und Hamrin haben mir erlaubt, Ihnen diese Geschichte zu erzählen. Dlovan hat eine Stelle als Koch gefunden, er kochte auch, als S.H. der Dalai Lama im Herbst 2016 bei uns zu Gast in der Helferei war. Und selbstverständlich wird er auch am bevorstehenden Heiligen Abend in der Offenen Weihnacht in der Helferei mitkochen.
Christoph Sigrist