Die andere Krippe

Unsere diesjährige Weihnachtsgeschichte hat Lars Simpson, christkatholischer Pfarrer an der Augustinerkirche, verfasst. In der lichterfrohen Adventszeit ist auch die Schattenseite der Weihnachtskrippe nicht zu übersehen.

Über siebzig Weihnachtskrippen aus aller Welt sind zurzeit in der Augustinerkirche, Bahnhofstrasse/ Münzplatz, zu sehen. Aus Ton, aus Metall, aus Holz, aus Folie oder Papier. Bunt oder schlicht, jedes Stück einzigartig. Jede Krippe ein Spiegelbild der Kultur ihres Herkunftslandes. So entdecken wir die bekannten Figuren der ersten Weihnachtsgeschichte ganz neu. Maria, Josef und Jesus vor dem Hintergrund der markanten St.-Wenzels-Kathedrale in Krakau, Polen, oder als eine afrikanische Familie. Wir entdecken neugierige Hirten in der Tracht des Bergvolkes aus den Anden, Peru. Oder Engel und Könige mit aufgerissenen Augen, die von Hand aus einem Baumstamm eines polnischen Waldes geschnitzt sind.
Der Legende nach hat der heilige Franz von Assisi im Jahre 1223 zum ersten Mal die vertrauten Erzählungen zur Geburt Christi nicht in einer Predigt, sondern mit lebenden Figuren und Tieren den Gläubigen näher zu bringen versucht. Daraus entstand die Tradition der Weihnachtskrippe. Heute können sich Jung und Alt an Weihnachtskrippen erfreuen. Auch wenn man dem Weihnachtsgeschehen distanziert gegenübersteht, kann man es als spannend empfinden, wie verschieden die Geburt Christi bildnerisch dargestellt wird.

Was nie gezeigt wird
Sich über die Geburt eines Kindes zu freuen, ist etwas Universales. Im Moment des ersten Schreies des Neugeborenen können die Sorgen der Welt überhört, kurz, vergessen werden. So ist in den Krippendarstellungen die Neugier, die Bewunderung, die Freude, die eine Geburt auslöst, zu finden. Was aber in den Weihnachtskrippen selten zu finden ist: Wie die Geschichte weiterging. Eine junge Familie, die plötzlich vor einem eifersüchtigen Herrscher fliehen musste. Maria, Josef und Jesus werden zu Flüchtlingen, finden Zuflucht in Ägypten. So verbindet sich das Schicksal der ersten Weihnachtsfamilie mit der Realität von Millionen Familien, die dieses Jahr an Weihnachten auf der Flucht sein werden.
Was in einer Krippe nie dargestellt wird: Der Kindermord von Bethlehem. Der Herrscher, König Herodes, verordnet aus Rache und aus Panik über einen möglichen Machtverlust die Tötung aller Knaben mit dem Ziel, den Jesusknaben umzubringen und damit das angekündigte neue Reich des Friedens im Keim zu ersticken. Diese Szene darzustellen, das wäre die andere Krippe. Die bekommen wir nicht zu sehen. Darüber können wir erleichtert sein, dürfen aber nicht gleichgültig werden. Dieses blutrünstige Kapitel gehört zu den Geschichten um Jesus. Oft übersehen, dürfte es nicht vergessen gehen.

Die Realität wahrnehmen
Es knüpft an das grausame Ende vieler unschuldiger Menschen von heute an. Immer wieder wurden wir in den letzten Monaten durch Internetplattformen und Social Media und in den Zeitungen mit Bildern öffentlicher Hinrichtungen konfrontiert. Entsetzt schaue ich so ein Bild in der Abend-zeitung an und merke gar nicht, dass das Tram gerade an der Pestalozzianlage an der Bahnhofstrasse vorbei fährt, wo bis in die 1860er-Jahre Todesurteile vollstreckt worden sind, vor einer Menge Schaulustiger.
Geburt und Tod – Freud und Leid. Wie oft stehen diese Gegensätze nahe beieinander. Das ist eine Realität. Sie soll uns nicht beängstigen. Indem wir sie wahrnehmen, können wir die freudigen Momente von Weihnachten intensiver erleben, in Dankbarkeit, ohne die andere Realität auszublenden. Weihnachten lädt uns ein, hinzuschauen. Viele Traumwelten werden uns in der Adventszeit angeboten: Wie das perfekte Weihnachtsfest zu feiern ist. Auch die Weihnachtskrippe stellt eine solche Welt dar. Wenn diese Welt die Realität nicht verzerrt, sondern uns darin bestärkt, solidarisch zu sein mit den Armen, mit den unschuldigen Opfern, für die diese Welt kein Traum, sondern bittere Realität ist, dann können wir die Botschaft von Weihnachten als ein Fest der Liebe verwirklichen.
Ich wünsche uns diesen Advent eine Weihnachtskrippe, die uns in den Bann zieht mit der Verletzlichkeit des Neugeborenen, der Zuversicht der Engel, der Freude der jungen Mutter, der Verantwortung des neugewordenen Vaters, mit der Begeisterungsfähigkeit der Hirten, dem Ausharren der drei Weisen und mit den Nöten der Unschuldigen. So können wir Hoffnung im Weihnachtsfest und Zuversicht für das neue Jahr finden. Frohe Weihnachten!

Lars Simpson