Ein Mann für alle Fälle

Helmut Müller ist mit seinen 72 Jahren der jüngste unter den Nachbarn, die bisher aus ihrem Leben berichtet haben. Sein Porträt schliesst die Reihe vorläufig ab.

Helmut Müller erwartet uns vor dem Haus Obere Zäune 12, wo er im Hinterhof, einem verträumten Idyll mit Brunnen und Katzen, ein Atelier gemietet hat. Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich an der Kirchgasse sein langjähriger Wohn- und Arbeitsort, das ehemalige deutsche Generalkonsulat. Heute lebt Helmut mit seiner Frau Elsa am Neumarkt, auch nicht weit. Die kleinen Distanzen im Quartier schätzt er sehr, sie haben ihm und seiner Familie manches erleichtert, und auch was den nachbarschaftlichen Umgang betrifft, setzen drei Jahrzehnte Altstadtleben Massstäbe. Elsa Müller erzählt am runden Tisch, wie sie und ihr Mann vor der Pensionierung auf Wohnungssuche gingen und unter anderem eine Genossenschaftssiedlung am Zürichberg besichtigten. «Sofort wurde an einem Fenster die Gardine gelüftet, weiter oben auch – wir haben zueinander gesagt: Komm, wir gehen wieder. In der Altstadt ist mehr Individualität möglich.» Sie fanden eine kleine Wohnung am Neumarkt, ideal für ein Paar.

Zu Hause im Generalkonsulat
Was für ein Unterschied zu der riesigen Hausverwalterwohnung im Dachgeschoss des deutschen Konsulats, in der sie mit ihren drei Buben Stephan, Ralph und Philipp gelebt haben. So weitläufig war sie, dass die Familie Müller zwei Telefonanschlüsse brauchte, um das Klingeln sicher zu hören. Durch die Kinder oder beim Einkauf am Migroswagen wurden sie schnell mit den Nachbarn bekannt. Obwohl der Eingang des Hauses bewacht war, fühlten sich die Söhne nie eingeengt, sie seien ohne Probleme mit ihren Freunden «hinein- und hinausgeschlüpft», hätten auf der Gasse gespielt und im Sommer den Rösslibrunnen zum Schwimmbad gemacht. Inzwischen sind sie ausgeflogen und die Eltern Müller führen regelmässig ihren ersten Enkel durch die Gassen spazieren.
«Ich hatte einen sehr interessanten Job und war praktisch der Mann für alle Fälle», beschreibt Helmut Müller seine Tätigkeit im Generalkonsulat. Er betreute die Technik im ganzen Haus, bereitete Empfänge vor und machte Chauffeurdienste für allerlei prominente Gäste aus der BRD. Da er eine imposante Erscheinung ist, mit tiefer Stimme und markantem Lockenkopf, wurde er gelegentlich von den Besuchern mit dem Generalkonsul verwechselt. Wohnen und Arbeiten im selben Haus, diese Umstände erlaubten es ihm, im Alltag für seine Kinder immer erreichbar zu sein. «Ich war ein moderner Vater.» Da der Arbeitsweg entfiel, blieb mehr Freizeit für die Familie, so ging man baden und picknicken, und in den Ferien erkundete die unternehmungslustige Familie mit Zelt oder Wohnwagen ganz Europa.

Duisburg – Zürich
Helmut Müller ist im Ruhrgebiet bei Duisburg aufgewachsen. Wegen der Kriegswirren lebte seine Familie zeitweise in Süddeutschland, seither hat er «einen Hang zu den Bergen». Diese Neigung, gepaart mit «Neugier, Unruhe, Lebensfreude» zog ihn schon als junger Mann in die Schweiz, wo er als gelernter Bau- und Konstruktionsschlosser in verschiedenen Industriebetrieben arbeitete. In der Wagonfabrik Schlieren baute er an den ersten Mirages mit und rüstete Mercedeswagen auf Schweizer Militärnorm um. In Schlieren begegnete er auch Elsa. Sie leitete ein Blumengeschäft und machte sich so ihre Gedanken über die Freundinnen des gut aussehenden Herrn, der regelmässig bei ihr Sträusse kaufte… Die Blumen taten indirekt ihre Wirkung, die beiden wurden ein Paar. Sie nahmen sich vor, in die Stadt zu ziehen, und mit der Anstellung im Konsulat erfüllte sich 1971 dieser Wunsch. Helmut Müller – Bootssport und Chorgesang lassen wir beiseite – ist seit Jugend auch passionierter Maler und Zeichner. An diversen Kursen der früheren Kunstgewerbeschule vertiefte er sein Wissen und findet heute Zeit und Musse, sich der Malerei zu widmen. Vor der Pensionierung hat er sich um ein Atelier bemüht, um für jeden Fall einen Fuss in der Altstadt zu behalten, und ist im Nachbarschaftsnetz fündig geworden. An den Wänden des schmalen Raums hängen Zeichnungen und Bilder in vielen Stilrichtungen und Formaten. «Mein Interesse gilt den verschiedensten Techniken der Malkunst.»

Neue Orientierung
Die Pensionierung vor sieben Jahren brachte für Helmut Müller zuerst ein Gefühl von Ferien, dann alternierten Melancholie und Tatendrang.
Seine grosse Vitalität half ihm bei der Neuorientierung. Der Tag beginnt mit dem gemeinsamen Frühstück, wo die Strukturen für den Tag besprochen werden. Dann geht jeder seine «eigenen Wege». Während Elsa bei der Spitex arbeitet, besorgt Helmut (ganz moderner Ehemann) den Haushalt und kocht. Jeden Montag engagiert er sich für den Kindermittagstisch im Altstadthaus. Am Nachmittags trifft man ihn im Lesesaal der Bibliothek, im Atelier oder auf der Gasse. Abends unternehmen Elsa und Helmut Müller gemeinsam, was ihnen Freude macht, sie turnen bei Roy Bosier am Hirschengraben, kochen für Gäste, besuchen Konzerte und Kinos. «Wenn ich einmal auch pensioniert bin, müssen wir wieder umstellen», sagt Elsa.
So wie die Müllers die wechselnden Lebensabschnitte bisher mit Weitsicht und Optimismus angepackt haben, ohne sich an Bestehendes zu klammern, werden sie zweifellos auch diese neue Herausforderung meistern.

Daniela Donati