Gottfried Keller feiern – und lesen

Der Altstadt Kurier hat Karl Grob gebeten, einen Beitrag zur Feier des 200. Geburtstags Gottfried Kellers zu schreiben. Karl Grob ist einer der Mitherausgeber der grossen historisch-kritischen Gottfried-Keller-Ausgabe (HKKA), die von 1996 bis 2013 bei Stroemfeld und NZZ-Libro erschienen ist.

Zurzeit wird Gottfried Keller gefeiert. Die Anekdoten wurden weniger – und das ist sicher gut so. Und vielleicht wird auch etwas mehr Keller gelesen – was wirklich gut wäre. Beim Lesen von Kellers Texten kann man oft lachen, aber oft ist es auch zum Heulen, wenn man realisiert, wie wenig sich die Hoffnungen erfüllt haben, die er mit dem viel zitierten Vaterland verband. «Keller selber lesen» ist aber immer besser als «über Keller reden» (und schreiben). Hier sind kleine Gelegenheitsbrocken:

Keller reagiert auf die Schleifung der alten Stadtmauern gegen Ende des
19. Jahrhunderts – in diesem Fall in Solothurn:

Ratzenburg.
Die Ratzenburg will Großstadt werden
Und schlägt die alten Linden um;
Die Türme macht sie gleich der Erden
Und streckt gerad, was traulich krumm.
Am Stadtbach wird ein Quai erbauet
Und einen Boulevard man schauet
Vom untern bis zum obern Thor;
Dort schreitet elegant hervor
Die Gänsehirtin Katharine,
Die herrlich statt der Krinoline,
Zu aller Schwestern blassem Neide,
Trägt einen Faßreif stolz im Kleide.
So ist gelungen jeder Plan,
Doch niemand sieht das Nest mehr an!
(HKKA, Band 10, S. 27)

*

In den Vorarbeiten zum Roman «Martin Salander» findet sich ein Zettelchen mit der folgenden Notiz:

Es wird eine Zeit kommen, wo der schwarze Segen der Sonne unter der Erde aufgezehrt ist, in weniger Jahrhunderten, als es Jahrtausende gebraucht hat, ihn zu häufen. Dann wird man auf die E[l]ektricität bauen. Aber da die lebenden Wälder jetzt schon langsam aber sicher aufgefressen werden, wo werden die geregelten Wasserkräfte sein, welche die elektrischen Maschinen bewegen sollen? etc.
Dahin führt das wahnsinnige: mehr, mehr! immer mehr! welches das Genug verschlingen wird.
(HKKA, Band 24, S. 355f.)

Eine Reaktion auf das Abholzen der Wälder zur Energiegewinnung am Ende des 19. Jahrhunderts.

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In der Rahmenerzählung der «Züricher Novellen» führt Keller den «Herr Jacques» ein. Er möchte ein Originalgenie werden und durchstreift mit viel Bildungswillen Zürichs Umgebung. Von ihm heisst es anlässlich einer Wanderung entlang der Sihl:


Dieses erinnerungsreiche Ufer entlang wandelte Herr Jacques, die offene Schreibtafel in der einen, den Stift in der andern Hand und ganz gewärtig, die Zeugnisse seiner Originalität zu beglaubigen, welche die rauschenden Wasser ihm bringen sollten. Allein der fleißige Strom hatte anderes zu thun; er mußte den Bürgern von Zürich das gute Buchenholz zutragen, welches sie aus dem schönen Walde bezogen, den ihnen nach der Ueberlieferung zur alten Reichszeit die Kinder König Albrechts von Oesterreich aus dem Gute eines seiner Mörder für loyales Verhalten geschenkt, oder aus jenem Forste, den Ludwig der Deutsche der Abtei Zürich gewidmet. Zu vielen Tausenden kamen, den Fluß bedeckend, die braven Holzscheite aus den mächtigen Wäldern stundenweit hergeschwommen, und der Fluß, von früherem Regenwetter angeschwollen, mit weggeschwemmtem Erdreich gesättigt und schmutzig gefärbt, warf die Last mit wilder Kraft vor sich her, als der ungeschlachte Holzknecht der guten Stadt, daß das Holz gar eilig in deren Bereich sich sputete.
An diesem Anblicke hätte nun Herr Jacques sich zu einem fruchtbringenden Gedanken erheben und, den Lauf der Zeiten verfolgend, das Auge in die graue Vorzeit versenkend, den Bestand der menschlichen Dinge erwägen, oder er hätte das Lob jenes grünen Waldes singen können, der in der Hand ausdauernder Bürgerkraft allein noch lebte von all der Herrlichkeit verschollener Ritter und Abteien, noch so frisch und grün, wie vor einem halben oder bald ganzen Jahrtausend.
Doch konnte er nicht auf solche Abschweifungen geraten, weil er sofort begann, die Holzscheite, so schnell er konnte, innerhalb eines ungefähren quadratischen Bezirkes zu zählen, die mutmaßliche Fläche, welche zu einem Klafter wohlgemessenen Buchenholzes gehören mochte, zu überschlagen, dann solche Flächen abzugrenzen und zu zählen, und endlich den Wert des vorüberschwimmenden Holzes auszurechnen, so daß er, nachdem er kein Auge verwendend und die Uhr
in der Hand eine halbe Stunde flußaufwärts gegangen war, auf seiner Schreibtafel die ziemlich wahrscheinliche Summe trug, für welche die Stadt während zweier Tage Brennholz einführte. Denn er kannte die gegenwärtigen Holzpreise genau und freute sich, die heutige Mission ganz vergessend, seines Fleißes und seiner Geschicklichkeit.

(HKKA, Bd. 5, S. 10 ff.)

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Die zweite Fassung des «Grünen Heinrich» endet mit dem Buch von Heinrichs Jugend, das er aus dem Nachlass Judiths zurück erhält:

Ich hatte ihr einst zu ihrem großen Vergnügen das geschriebene Buch meiner Jugend geschenkt. Ihrem Willen gemäß habe ich es aus dem Nachlaß wieder erhalten und den andern Teil dazu gefügt, um noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln.

Knapp sieben Jahre später erscheint der «Martin Salander». Er knüpft bildlich an das Ende des «Grünen Heinrich» an, nur dass die Wege nicht mehr grün sind. Das, was Ernst Bloch später die «Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen» nennen wird, ist hier bildlich erfasst bis hin zur Brunnenröhre, deren alte Funktion als Gewehr von Salander immer noch mit dem Pathos Hedigers aus dem «Fähnlein der sieben Aufrechten» bedacht wird – unter völliger Missachtung ihrer «Kastration». Das Scheitern Salanders beginnt schon am Anfang im Blick auf die unbekannt-bekannte Stadt, in die er zurückkehrt:

Ein noch nicht bejahrter Mann, wohl gekleidet und eine Reisetasche von englischer Lederarbeit umgehängt, ging von einem Bahnhofe der helvetischen Stadt Münsterburg weg, auf neuen Straßen, nicht in die Stadt hinein, sondern sofort in einer bestimmten Richtung nach einem Punkte der Umgegend, gleich einem, der am Orte bekannt und seiner Sache sicher ist. Dennoch mußte er bald anhalten, sich besser umzusehen, da diese Straßenanlagen schon nicht mehr die früheren neuen Straßen waren, die er einst gegangen; und als er jetzt rückwärts schaute, bemerkte er, daß er auch nicht aus dem Bahnhofe herausgekommen, von welchem er vor Jahren abgefahren, vielmehr am alten Ort ein weit größeres Gebäude stand.
Die reichgegliederte, kaum zu übersehende Steinmasse leuchtete auch so still prächtig in der Nachmittagssonne, daß der Mann wie verzückt hinsah, bis er von dem Verkehrstrubel unsanft gestört wurde und das Feld räumte. Aber der erhobene Kopf, die an der Hüfte gelind sich hin- und herwiegende Reisetasche ließen erkennen, wie er vom Schwunge der Gedanken bewegt, von Genugthuung erfüllt dahin schritt, um Weib und Kinder aufzusuchen, wo er sie vor Jahren gelassen. Jedoch vergeblich forschte er zwischen der rastlosen Ueberbauung des Bodens nach Spuren früherer Pfade, die sonst zwischen Wiesen und Gärten schattig und freundlich hügelan geleitet hatten. Denn diese Pfade lagen auch weiterhin unter staubigen, oder mit hartem Kies beschotterten Fahrstraßen begraben. Obgleich das alles seine Bewunderung stetig erhöhte, war er endlich doch angenehm überrascht, als er unvermerkt, um eine Ecke biegend, sich in einen Häuserwinkel versetzt fand, den er augenblicklich an seiner verjährten ländlichen Bauart wieder erkannte. Die vorspringenden Dächer, das rote Balkenwerk, die kleinen Vorgärtchen waren die nämlichen, wie seit Menschengedenken. …
(HKKA, Bd. 8, S. 5f.)

Hier nun lohnt es sich, weiter zu lesen.

Karl Grob