Nun leuchten sie wieder

Unsere diesjährige Weihnachtsgeschichte hat Renate von Ballmoos, Pfarrerin an der Predigerkirche, verfasst. Es geht darin um Licht und um Lichtwesen…

Sie leuchten wieder, die roten gelben, grünen und blauen Lichter. Sie leuchten wieder und Zoé sagt zu ihrer Mutter: «Hast du sie gesehen? Gestern Abend hat Rot getanzt.» «Sie verbreiten Wärme», sagt die Mutter, «und die Sehnsucht nach Liebe.» «Und Blau?», fragt Zoé. «Blau baut die Brücke zur Unendlichkeit», antwortet die Mutter. «Und Grün und Gelb?» «Das weisst du doch selber», lächelt die Mutter, «Grün ist das Leben, Blumen und Bäume und Gelb, ja Gelb kommt von weither, wie die Sterne, das Licht.»

Mitten in der Nacht
«Sie leuchten wieder», denkt der Fuchs und setzt sich hin. Er staunt die Lichter an und bellt leise auf. Menschenleer sind die Gassen der Altstadt, und der Fuchs schleicht durch die Predigergasse zur Predigerkirche hinüber. Er ist wie fast immer auf der Suche nach etwas Fressbarem.
Da bleibt er plötzlich stehen, wittert, nichts. Doch irgendetwas stimmt da nicht, ist anders als sonst. Der Fuchs erstarrt, spitzt die Ohren, wird beinahe unsichtbar. Und dann sieht er sie: rot und grün und gelb und blau. Sie fliegen, aber sie flattern nicht. Sie schweben, rund um die Kirche und durch die Gassen, hinein in die Häuser und wieder heraus, tauchen auf, verschwinden, und plötzlich sind sie ganz nah, unerwartet nah. Und der Fuchs merkt: Sie haben keinen Geruch. Still bleibt er sitzen. «Wer seid ihr?» denkt er, «Was seid ihr für sonderbare Wesen? Vögel seid ihr keine, so lautlos, so still.» Und als ob seine Gedanken gehört würden, setzt sich Grün neben den Fuchs und sagt: «Wir sind die Engel des Lebens. Wir säen neue Lebenskraft, damit die Blumen und Bäume vom Frühling träumen und Tier und Mensch im kalten Winter nicht verzweifeln.»
Rot schwebt vorbei und lacht: «Wenn dir kalt ist, dann ruf uns, und wir werden dich und deine Füchsin besuchen. Hungert nicht nach Wärme und Liebe, lasst sie euch schenken und schenkt sie weiter. Wärmt einander.»
Lange bleibt der Fuchst still sitzen und staunt in die Nacht. Blaue Wesen tauchen auf und der Fuchs spürt eine tiefe Sehnsucht in sich. Was ist es, das Ziel seiner Sehnsucht, das Ziel seiner Träume? Ist es Friede? Ruhe? Geborgenheit?
Immer noch ist es tiefe Nacht, der Fuchs sitzt und träumt vor sich hin. Da plötzlich: Musik! Woher, und was für Klänge sind das? Es ist, als ob es heller würde, doch für die Dämmerung ist es noch viel zu früh. Es wird spät hell in diesen Tagen. Die Türen der Predigerkirche öffnen sich, wie von Zauberhand, Licht und Musik scheinen dort heraus zu strömen. Der Fuchs macht sich bereit zum Rückzug, den Menschen geht er lieber aus dem Weg. Doch weit und breit sind keine Menschen zu sehen.

Lichtwesen
Da packt unseren Fuchs die Neugier. Er schleicht sich über den Predigerplatz, verschwindet wieder im Schatten der Kirchenmauer und blickt vorsichtig um die Ecke in die Kirche hinein. Alles ist hier drinnen hell und belebt, von hellen, lichtvollen Wesen. Und auch die Musik klingt jetzt ganz deutlich heraus.
«Hier also sind sie zu Hause», denkt der Fuchs, doch kaum hat ihn dieser Gedanke gestreift, hört er: «Nein, nicht hier sind wir zu Hause, von weither kommen wir. Nur in diesen Nächten kannst du uns sehen. Wir singen die Lieder der Hoffnung und widerspiegeln das Licht für die Welt. Wir lassen uns locken durch die Lichter der Menschen und lassen uns rufen durch ihre Gebete. Wir erneuern das, was längst geschah und immer gilt: Licht für die Welt und Friede und Barmherzigkeit für Mensch und Geschöpf.»
Der Fuchs staunt und vergisst sich und seine Umgebung, die Kirche leuchtet und klingt. Ist das so: der Himmel auf Erden? Dann schaut der Fuchs zu, wie die Lichtwesen eins nach dem andern entschweben, hinaus aus der Kirche, durch die Gassen, über die Hausdächer, zum Kirchturm hinauf, himmelwärts.
«Ob die Menschen das auch sehen?» überlegt der Fuchs. «Ob sie deshalb die roten, gelben grünen und blauen Lichter anzünden?» Leise schleicht er zurück in sein Versteck.

Licht und Musik
Im Garten trifft er die Füchsin. Ihr erzählt er von den roten und blauen, grünen und gelben Wesen und dass er sich bis unter die Kirchentür gewagt hat. Die Füchsin zuckt leicht mit ihrer Schwanzspitze (das ist so, wenn Füchse lachen) und meint: «Ich weiss, ich bin ihnen auch schon begegnet, den klingenden und leuchtenden Wesen. Komm morgen mit mir, wenn du magst.»
Der Fuchs kann den nächsten Abend kaum erwarten, doch die Füchsin lässt sich nicht drängen. «Willst du wirklich all den Menschen mit ihren Hunden begegnen?», fragt sie den Ungeduldigen. Dann wird es still, und die beiden machen sich auf den Weg. Der Mond leuchtet, die Gassen sind leicht verschneit und wieder sind die farbigen Lichtwesen unterwegs. Doch diesmal ist es anders, denn plötzlich beginnen mitten in der Nacht die mächtigen Glocken zu läuten, von überall her tönen sie, und da sind auch Menschen, die in die Predigerkirche strömen, und das Licht von drinnen her wirkt warm. «Kerzenlicht», erklärt die Füchsin, und keine himmlische, wohl aber mächtige Orgelmusik ist zu hören. Die Türen der Kirche schliessen sich, Fuchs und Füchsin sitzen, warten und beobachten. Und tatsächlich: plötzlich kommen alle wieder heraus, die Menschen, doch sie sind anders. «Du», sagt der Fuchs, «die leuchten ja auch!» Doch die Füchsin meint: «Leuchten ist übertrieben, aber ein bisschen glänzen tun sie, rot und blau und grün und gelb. Und schau, die Lichtwesen!» Ja, die Lichtwesen sind auch da und sie sind ganz nah, fast berühren sie die Menschen, welche sie nicht zu sehen aber doch zu spüren scheinen. Denn es geht ein eigentümlicher Friede von ihnen aus.
Und plötzlich hören Fuchs und Füchsin ganz deutlich: «Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und unter den Menschen!»
«Friede unter den Menschen», denkt die Füchsin, «hoffentlich gilt dieser Friede auch uns, den Tieren.» Und wiederum hört sie die Antwort sofort: «Friede unter den Tieren, ja, liebe Füchsin, der Wolf beim Lamm und der Fuchs beim Hasen!»
Friede auf Erden!

Renate von Ballmoos